Wolfgang Hohlbein -
Angst, Euch aus dem Schlaf zu reißen, aber der Hof war verlassen. Wo wart Ihr alle?«
»Auf der Jagd«, antwortete Temser. »Hat der Graf Euch nicht erzählt, daß er für diesen Abend eine nächtliche Jagd angesetzt hatte?«
»Doch«, antwortete Tobias. »Das war auch der Grund, aus dem ich es vorzog, zurückzureiten.« Er lächelte flüchtig.
»Ich hatte keine Lust, die halbe Nacht allein in diesem unheimlichen Gemäuer herumzusitzen und darauf zu warten, daß sie zurückkamen und anfingen, sich zu betrinken.«
Temser lächelte. »Ihr hättet lange warten können, fürchte ich«, sagte er. »Diese Jagden dauern manchmal bis in den nächsten Morgen hinein. Und was das Trinken angeht, habt Ihr nur zu recht. Hättet Ihr ein Wort gesagt, so wäre ich natürlich auf dem Hof geblieben.«
»Ihr wart nicht bei der Jagdgesellschaft«, sagte Tobias beiläufig.
»Natürlich nicht«, antwortete Temser. »Was erwartet Ihr?
Ich bin ein einfacher Bauer, und die feinen Herren wollen einen wie mich nicht dabei haben, wenn sie Jagd auf Wildschweine und Rehe machen. Und wenn ich ganz ehrlich bin
- ich möchte auch nicht so gern dabeisein. Aber meine Männer und ich verdingen uns gern als Treiber. Die Knechte sind froh, sich etwas verdienen zu können, und für mich ist es eine willkommene Abwechslung.«
Tobias blickte ihn eine Zeitlang durchdringend an. Temsers Worte klangen einleuchtend; vielleicht sogar zu einleuchtend. Möglich, daß er anfing, hinter jedem Wort eine Lüge und hinter jeder unbedachten Geste einen Verrat zu wähnen. Aber irgendwie wollten die Vorstellungen dieses 298
freundlichen, alten Mannes und einer nächtlichen Wild-schweinjagd in seinem Kopf nicht zusammengehen. Und seine Worte klangen ihm einfach zu sehr nach einer Erklä-
rung, die er sich sorgsam zurechtgelegt hatte, weil er ganz genau diese Frage erwartete.
Was natürlich Unsinn war, denn Temser hatte bis zu diesem Moment ja gar nicht wissen können, daß er in der Nacht noch einmal auf seinem Hof gewesen war.
»Trotzdem tut es mir sehr leid«, sagte er noch einmal.
»Wenn ich irgend etwas tun kann, um Euch für den Verlust des Tieres zu entschädigen, so laßt es mich wissen.«
»Das könnt Ihr«, antwortete Temser, plötzlich wieder lächelnd. »Erweist meiner Frau und mir die Ehre, Euch heute abend zum Essen einzuladen.« Er sah sich schaudernd in der großen, feuchten Halle um. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Ihr es besonders erhebend findet, in dieser Höhle zu übernachten.«
Tobias zögerte. Nach dem, was er erlebt hatte, hatte er gewisse Bedenken, Buchenfeld noch einmal nach Einbruch der Dunkelheit zu verlassen. Die Aussicht auf ein gutes Mahl bei Temser kam ihm andererseits sehr gelegen. So würde er Bressers Gesellschaft meiden können und gleichzeitig der Verlockung widerstehen, in Katrins Kammer hinaufzugehen.
»Ich werde darüber nachdenken«, versprach er. »Wie
lange seid Ihr noch in der Stadt?«
»Noch eine Weile«, antwortete Temser. »Ich denke, daß ich eine Stunde vor Sonnenuntergang zurückreiten werde.
Ihr könnt mich begleiten, wenn Ihr das wünscht. Ich verspreche Euch, daß Ihr pünktlich morgen eine halbe Stunde nach Tagesanbruch wieder hier in der Stadt seid.«
»Ich überlege es mir«, versprach Tobias. »Aber ich denke, ich werde Eurer Einladung gerne folgen.«
Temser verabschiedete sich. Pater Tobias vernahm noch drei weitere Zeugen an diesem Tag. Dann war er der Meinung, nun wirklich genug getan zu haben, um auch den Mißtrauischsten in Buchenfeld davon zu überzeugen, daß er nach seiner Rekonvaleszenz sein Amt mit allem zu Gebote 299
stehenden Ernst ausführte. Er verließ das Haus, ging in das Bressers zurück und sagte Maria für das Abendmahl ab.
Dann trug er ihr auf, nach oben zu gehen und Katrin zu holen. Sie sah ihn überrascht an. Seit sie in dieses Haus gebracht worden war, hatte Katrin die Kammer unter dem Dach nicht ein einziges Mal verlassen. Aber Tobias erklärte ihr mit wenigen freundlichen Worten, daß es schon alles seine Richtigkeit hatte und sie nichts befürchten mußte, und so wandte sie sich um und ging, seinen Befehl auszuführen.
Tobias seinerseits war ein wenig überrascht, daß sie überrascht war; die Vorbereitungen, die er im Turmhaus nebenan getroffen hatte, waren eindeutig.
Er wartete einige Augenblicke, aber Maria und Katrin kamen nicht sofort zurück, so daß er sich schließlich umwandte und die Stube betrat, um dort weiter zu warten.
Er war müde. Das
Weitere Kostenlose Bücher