Wolfgang Hohlbein -
glatzköpfige Mönch den Kopf und sah Tobias an.
Es war Pretorius, sein Abt.
Für einen Moment glaubte Tobias wieder, einen bizarren, sonderbaren Fiebertraum zu träumen. Vielleicht ließ die Schwäche ihn Trugbilder sehen. Aber es gab keinen Zweifel: 366
das schmale, asketische Gesicht mit den tief eingegrabenen Narben, über deren Herkunft der Abt zeit seines Lebens beharrlich geschwiegen hatte, die dunklen Augen, trübe vom Alter geworden und doch wacher als die meisten, in die Tobias je geblickt hatte, der schmale Mund, der stets zu einem grausamen Lächeln verzogen zu sein schien, aus dem Tobias aber alles über Gottesfurcht und die Liebe zu den Menschen gelernt hatte. Niemand anderes als Abt Pretorius war von Theowulf gerufen worden.
Pretorius hob eine seiner schmalen, von der Gicht und dem Alter gekrümmten Hände und winkte ihm, näherzutreten.
Tobias rührte sich im ersten Moment nicht, sondern blickte den Abt noch immer ungläubig an, so daß Theowulf ihm einen sanften Stoß versetzte. Zögernd machte er ein paar Schritte und blieb in einiger Entfernung vor der Richterbank stehen. Pretorius starrte ihn noch immer an. Sein Gesicht war reglos wie eine Maske aus Stein, aber der Glanz in seinen Augen ließ Tobias schaudern. Es war nicht Zorn oder Entsetzen, sondern eine tiefempfundene, ehrliche Trauer.
Tobias begriff jäh, daß Theowulf einen Fehler gemacht hatte. Einen Fehler, der viel größer war, als er ahnen mochte, denn indem er dafür gesorgt hatte, daß nicht irgendein Dominikaner, sondern Pretorius selbst, der Abt seines Klosters, kam, hatte er den Bogen überspannt. Pretorius war sicherlich der aufrichtigste Mensch, den Tobias jemals kennengelernt hatte. Und der alte Abt war dafür bekannt, in Fragen des Glaubens unnachsichtig zu sein und keine Meinung gelten zu lassen, die von der offiziellen Dok-trin des Papstes abwich. Er war aber auch der gütigste und liebevollste Mensch, dem Tobias je begegnet war. Und trotz dieses Rufes, der ihm vorauseilte, hatte er aus dem Munde keines anderen Menschen jemals Worte von größerer
Wärme und größerem Verständnis für das menschliche
Wesen und seine Schwächen gehört. Aber vor allem war er ein gerechter Mann; und ein Mann von messerscharfer Logik.
Pretorius war schon alt gewesen, als Tobias nach Lübeck in die Dominikanerburg gekommen war, ein paar Wochen 367
nach jenem schrecklichen Ereignis mit dem Bettelmönch.
Pretorius selbst hatte sich des Knaben angenommen, und wenn überhaupt einem Menschen, so war es Pretorius zu verdanken, daß Tobias trotz allem seinen Weg zu Gott und zu seinem Glauben gefunden hatte. Wie ein Meister einen besonders talentierten Schüler hatte Pretorius ihn stets mit weniger Nachsicht behandelt als die anderen, denn er hatte vom ersten Tag an die große Intelligenz und das wache Interesse Tobias' gespürt. Tobias war niemals ein blinder Eiferer gewesen wie so viele, die als Novizen in das Kloster kamen
- und es irgendwann wieder verließen, ohne das Ziel ihrer Ausbildung erreicht zu haben. Er hatte sich niemals damit zufriedengegeben, Bibelverse auswendig zu lernen. Oft hatten sie ganze Nächte damit verbracht, beieinander zu sitzen und miteinander zu reden; Fragen des Glaubens, der Ethik oder über den Umgang der Menschen miteinander. Manches von dem, was er Pretorius gefragt hatte, hätten ihm viele seiner Brüder als Gotteslästerung ausgelegt oder Ketzerei. Aber Pretorius hatte ihn niemals gescholten. Er hatte gespürt, daß es stets nur die Neugier gewesen war, die Tobias' Gedanken und Handeln lenkte. Die unschuldige Neugier eines Kindes, die er sich auch als erwachsener Mann noch bewahrt hatte und die es ihm niemals erlaubte, Dinge einfach zu akzeptieren, sondern ihn immer zwang, nach einem Grund hinter allen Dingen zu fragen. Ja, dachte Tobias, wenn es einen Menschen gab, der ihm glaubte, dann Pretorius.
»Bruder Pretorius«, murmelte er, »ich . . .«
Pretorius brachte ihn mit einer nur angedeuteten Handbewegung zum Schweigen. Gleichzeitig wandte er den Kopf und gab einem hinter Tobias stehenden Mann einen Wink.
»Bringt ihm einen Stuhl«, sagte er.
Tobias musterte die beiden Mönche, die den Abt begleitet.
Es waren ausgerechnet die Brüder Stephan und Telarius, die in Lübeck in der Ordensgemeinschaft nicht zu seinen nicht wenigen Neidern gehört hatten; ihr Verhältnis war stets freundlich und distanziert gewesen. Sie gehörten erst seit kurzer Zeit zum Orden - Stephan seit einem, Telarius seit zwei
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