Wolfsfieber - Band 2
saßen. Als ich die ersten Takte des Liedes von „Johnossi“ erkannte, formten meine Lippen ganz von selbst die gesungenen Worte nach, die ich schon unzählige Male gehört hatte. Tom neben mir fuhr plötzlich von der Bank hoch und packte mich am Arm. Ich riss erschrocken die Augen auf.
„Das gibt es doch nicht. Jetzt sag bloß, dass du auch ein Fan von Johnossi bist!“, schrie er mir fast ins Gesicht.
„Doch, natürlich. Ich habe sogar ihr erstes Konzert in Österreich gesehen, zusammen mit meinem Chef. Er mag sie auch sehr. Es war ein fantastischer Auftritt“, erinnerte ich mich und unterdrückte gleichzeitig eine andere Erinnerung. Als sich Istvan damals eine Schallplatte dieser Band besorgt hatte, weil er wusste, dass ich sie liebte und er mir zögerlich gestand, dass er nur ihre langsameren Stücke hören könnte – sein Gehör war zu sensible für ihre rockigeren Stücke –, sie aber dennoch mochte. Die Erinnerung daran und an das Bild, wie wir dabei gemütlich in seinem Bett gelegen hatten, drehte mir schmerzhaft den Magen um. Tom ließ ich davon nichts merken, sondern formte einfach weiter die Liedzeilen still mit dem Mund nach. Er starrte mich die ganze Zeit dabei an. Ich war von der aufflammenden Erinnerung so abgelenkt und überwältigt, dass ich es nicht kommen sah. Damit hatte ich, trotz aller Anzeichen, nicht gerechnet.
Tom war näher gekommen, stand jetzt ganz dich vor mir. Ich starrte, ohne Vorwarnung, in seine warmen Augen, die jetzt eine fordernde Botschaft transportierten. Das war das Letzte, was ich noch registrierte, bevor er seine Lippen auf meine presste.
Es musste der Schock sein, denn ich wehrte ihn nicht ab. Ich ließ Tom einfach machen. Ich ließ es zu, von Tom geküsst zu werden. Das Monster in mir lachte höhnisch. Und ich?
Ich fühlte seine warmen, feuchten Lippen, nahm wahr, wie sein Mund begann, sich mit meinem zu bewegen. Ich registrierte seinen schneller werdenden Atem an der Seite meiner Wange, aber irgendwie fühlte ich es nicht. Es war alles, wie es sein sollte, wenn ein Mann eine Frau küsst. Mein Gehirn urteilte sogar, dass es ein guter Kuss sein musste, objektiven Kriterien nach. Er machte alles richtig. Ich war falsch, verdreht. Auch als er etwas forscher wurde und versuchte mich zu umarmen, was durch meine fehlende Mithilfe ungeschickt wirkte, konnte ich es noch immer nicht empfinden. Nicht wirklich. An meinen Hüften wurde mir etwas wärmer. Der Temperaturunterschied wurde von meinem Körper registriert und interpretiert, aber ich war leblos, stumpf. Ich verstand nicht, warum er den Kuss nicht abbrach. Es konnte nicht gerade aufregend sein, eine leblose Hülle zu küssen.
Wieso konnte ich seinen Kuss nicht empfinden? Es lag nicht an ihm. Schließlich konnte ich noch genug Einfühlungsvermögen aufbringen, um sicher zu wissen, dass ich früher etwas empfunden hätte. Aber jetzt, nach Istvan, kämpfte Tom auf verlorenem Posten. Jedem anderen Mann würde es genauso er-gehen. Es wäre vollkommen egal, um wen es sich dabei handelt. Ich würde nie wieder einen anderen Mann küssen können. Istvan hatte mich für alle anderen Männer dieser Welt verdorben. Ein Teil von mir wurde verdammt wütend auf ihn, als mir das bewusst wurde. Ich und sogar mein Körper, wir konnten nur ihn lieben, ausschließlich. Als mich diese Erkenntnis wie ein Schlag traf, kam ich wieder zu mir und bemerkte, dass Tom noch immer an meinen Lippen hing. Eine Schockwelle fuhr durch meine Körper und ich stieß ihn heftiger, als ich wollte, von mir. Er war vollkommen überrumpelt. Ich hatte Tom so heftig von mir geschubst, dass er mit dem Rücken gehen das Geländer vor dem Donaukanal krachte.
„Autsch, das war nicht die Reaktion, auf die ich gehofft hatte“, stieß er etwas beleidigt hervor und verstummte, als er mich wieder ansah.
„Oh Gott, was ist mit dir! So schlecht küsse ich doch bestimmt nicht“, sagte er erschrocken und durchbohrte mich, noch immer fassungslos, mit seinem Blick.
Was war mit mir?
Ich fasste mir an die Lippen, als könnte ich so meinen Betrug ungeschehen machen, konnte aber nichts Ungewöhn-liches ertasten. Erst als ich meine Hand zurückzog und dabei meine Wange streifte, bemerkte ich es. Ich weinte. Tränen liefen meine Wangen entlang. Ich wollte vor Scham im Erdboden versinken. Dieser arme Junge! Mein Monster trieb ein gemeines Spiel mit ihm. Doch er schien mir nicht wütend zu sein. Er sah mich nur mitleidig an.
„Tut mir so leid“, stammelte ich verheult.
Weitere Kostenlose Bücher