Wollust - Roman
vorstellen.«
»Ich bin ein ausgebildeter Polizist, Hannah.«
»Ich wette mal, selbst wenn nicht, würdest du dich auch so benehmen.«
Decker kommentierte ihre Ansichten mit keinem Wort. »Bist du ganz plötzlich seine Verteidigerin geworden?«
Wieder hatte Hannah das Gefühl, es sei am besten, nichts dazu zu sagen.
Decker wandte sich an seine Frau. »Was mache ich jetzt?«
»Warum reden wir nicht mit ihm und fragen ihn, was passiert ist.«
»Mein Interesse an einer Therapiestunde hält sich in Grenzen. Lassen wir ihn weiterhin hier wohnen, oder schicken wir ihn zu seiner Tante und waschen unsere Hände in diesem Durcheinander in Unschuld?«
»Du befürchtest, er könnte gewalttätig sein?«, fragte Rina.
»Das ging mir durch den Kopf. Wir wissen nichts über ihn, außer dass er väterlicherseits ein paar schlechte Gene mitbekommen hat.«
»Er ist nicht gewalttätig«, widersprach Hannah.
»Du hast selbst gesagt, er hat den Kerl zusammengeschlagen.«
»Er hat den Angreifer verprügelt, nicht mich. Du meine Güte, er hat mir vielleicht das Leben gerettet. Er ist nicht aufbrausend. Um genau zu sein, ist er ernsthaft verwundet. Und würde vielleicht mal jemand die Umstände berücksichtigen, die er gerade durchleben muss? Ich kann euch nicht vorschreiben, was ihr tun sollt, aber ihr wisst genau, dass er im Grunde genommen obdachlos ist.«
»Er hat Verwandte, Hannah, aber darum geht es hier nicht«, sagte Rina. »Bestraft man einen Jungen für so ein Verhalten?«
»So ein dämliches Verhalten«, unterbrach Decker sie.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wir wissen nicht, was genau passiert ist. Und vielleicht wehrt man sich in seinen Kreisen,
oder man bekommt andernfalls von seinen Freunden und seinem Vater den Hintern versohlt.«
»Nicht, wenn Waffen mit im Spiel sind«, widersprach Decker.
»Übrigens …« Hannah unterbrach sich selbst.
»Was?«
»Nichts.«
»Hannah, spuck’s aus. Ich muss alles wissen, bevor ich eine Entscheidung treffe.«
»Wir haben hinterher nach der Waffe gesucht. Gabe wollte sie da nicht herumliegen lassen, für den Fall, dass der Angreifer zurückkommt.«
»Räuber, um genau zu sein.«
»Ist doch egal, Abba . Gabe wollte die Waffe nicht herumliegen lassen, falls mal kleine Kinder im Gebüsch spielen und sie dort finden.«
»Das war sehr vorausschauend«, meinte Rina.
»Ich bin nicht beeindruckt«, entgegnete Decker.
»Jedenfalls haben wir auf dem Boden danach gesucht, und ich habe zwei Essstäbchen gefunden. Ich habe Witze darüber gemacht, dass er vielleicht mit den Stäbchen bedroht worden sei. Gabe sagte, dass das garantiert keine Stäbchen waren und dass es sich wie eine Waffe angefühlt hatte. Dann habe ich ihn gefragt, ob er weiß, wie sich eine Waffe anfühlt. Und er sagte: ›Na sicher.‹«
Niemand sagte in diesem Augenblick noch etwas.
»Als ob er Erfahrung mit Waffen hätte«, fuhr Hannah schließlich fort. »Vielleicht hat er deshalb so reagiert. Vielleicht jagen ihm Waffen nicht besonders viel Angst ein.«
»Genau das ist das Problem, Hannah. Waffen sollten ihm Angst einjagen.« Decker atmete tief durch. »Da ich seinen Vater kenne, wird etwas Wahres dran sein. Bist du sicher, dass bei dir alles in Ordnung ist?«
»Mir geht’s gut.«
»Wo ist die Waffe?«, fragte Decker.
»Bei Gabe.«
»Also gut, eins nach dem anderen.« Decker erhob sich. »Dann nehme ich ihm erst einmal die Waffe ab.«
27
Während der frühen Abendstunden ging es in den meisten Restaurants mit Bar eher ruhig zu, aber die Happy Hour im Garage war gut besucht. Drinks zum halben Preis und Gratissnacks an der Bar mussten den Berufsstand der Schreibtischtäter angelockt haben, denn der Laden war gerammelt voll mit Anzugträgern beiderlei Geschlechts. Müsste Marge einen Tipp abgeben, würde sie den Großteil der Masse als Anwälte eintüten, weil das Gericht in Downtown nur ein paar Blocks von hier entfernt lag. Die Seelen, die nichts mit dem Rechtssystem zu tun hatten, waren vermutlich Banker, Börsenmakler oder Steuerberater in angesehenen Firmen der Stadt. Die Mehrheit war jung – Ende zwanzig bis Ende dreißig.
Einen Platz zu ergattern, stellte sich als eine Herausforderung dar, aber mit ihren Adleraugen entdeckte Marge einen freien Ecktisch. Sie und Oliver setzten sich hin und studierten die Speise- und Getränkekarte. Schließlich bestellten sie eine Hummus-Platte und ein paar Fläschchen Mineralwasser bei einer Kellnerin namens Yvette. Sie hatte blaue Augen und
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