Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition)
auch juristisch sind die Ansprüche wechselseitig vorhanden, unabhängig vom Zeitpunkt der Zahlung. Letztlich ist es eine Frage der gesellschaftlichen Konvention.
Der Mensch lebt von Natur aus im Spannungsverhältnis zwischen Produktivität und Empfänglichkeit. In den Phasen, wo jemand empfänglich ist, konsumiert er. In den Phasen, wo jemand produktiv ist, wird er für andere tätig. Wir müssen dem Menschen nur die Chance geben, in diesem Spannungsfeld zu gedeihen. Das braucht Vertrauen oder Zutrauen. Und jeder Mensch braucht ein Einkommen, um arbeiten zu können. Wenn er arbeiten will, muss er leben. Mit Toten kann man nicht arbeiten. Wenn er leben will, braucht er Einkommen.
Deswegen meinen viele fälschlicherweise, wir müssten Arbeitsplätze sichern. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. »Arbeit sichern«. Das stand mal auf den Werbeplakaten irgendeiner Partei im Wahlkampf vor ein paar Jahren. »Arbeit sichern«. Ist das denn etwas, das wir wollen? Wollen wir Arbeit sichern? Meiner Ansicht nach wollen wir Arbeit »erledigen«. Mein Sohn würde sich bedanken, wenn ich beim Frühstück fünf Teller mit Marmelade bekleckern würde, um seine Arbeit zu sichern: »Sonst hast du nicht genug Geschirr, das du die in die Maschine einräumen kannst.«
Das habe ich einmal in Berlin gehört, als ich mit einem Bürger über den Dreck auf der Straße sprach. Da sagte der: »Er könne das ja in Nullkommanix wegfegen. Aber er wolle der Straßenreinigung nicht die Arbeit wegnehmen.« Sollen wir also dankbar sein, wenn die Leute ihren Müll auf die Straße werfen?
Nein, der Berliner Bürger wollte den Mitarbeitern der Straßenreinigung nicht ihr Einkommen wegnehmen. Die Arbeit hätte er vermutlich gern gemacht, weil nicht nur er sich über den gefegten Bürgersteig gefreut hätte, sondern auch all seine Nachbarn. Wir brauchen keine »Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen«, sondern »Einkommensbeschaffungsmaßnahmen« oder eben Grundeinkommen. Arbeit bekommt dann Sinn, wenn sie von den anderen wertgeschätzt wird. Wird sie wertgeschätzt, wird sich jemand finden, der sie erledigt. Die Arbeit findet sich dann von allein. Es gibt genug zu tun.
Durch das, was wir täglich tun, verdienen wir uns einen Lebensunterhalt. Ein Leben wird daraus erst durch das, was wir zu geben haben.
Peter Sloterdijk
K APITEL 16 Nachfolge und Stiftungsgründung
oder welche Rendite ein Medien-Aktionär einfährt und wie man ein Lebenswerk am Leben erhält
»Erinnern Sie sich noch an Gabriele Fischer?«, mit dieser Frage kam eines Morgens mein Kollege Michael Kolodziej auf mich zu. »Wissen Sie, die Journalistin, die vor rund zehn Jahren dieses Porträt im Manager-Magazin über uns geschrieben hat.«
Natürlich erinnerte ich mich. Gabriele Fischer hatte ich im Frühjahr 1990 kennengelernt. Sie hatte Politik und Soziologie studiert und war als junge, sehr begabte Journalistin mehr oder weniger zufällig beim Manager-Magazin gelandet. Sie hatte zuvor bei der Lokalzeitung Weser-Kurier mit großer Leidenschaft sozialkritische Artikel geschrieben und fühlte sich in der Welt der Wirtschaft wohl lange als Fremdkörper. Da ihre Mutter in Karlsruhe lebte, hatte sie über irgendeinen Kanal – vielleicht aus den Badischen Neusten Nachrichten oder auch nur durch den Tratsch der Nachbarin – erfahren, dass man bei dm eine andere Art des Umgangs pflegte als sonst in Unternehmen üblich.
Die Chefredaktion hatte wohl verhalten begeistert auf ihre Idee reagiert, als sie vorschlug, ein Porträt über einen Einzelhändler schreiben zu wollen. Im Manager-Magazin ging es üblicherweise um die große Industrie, Thyssen, Siemens und dergleichen. Der Drogeriemarkt war damals keine Nachricht wert. Trotzdem ließ man sie gewähren, und so kam Gabriele Fischer nach Karlsruhe, um sich drei Tage lang unser Unternehmen genauer anzusehen. Das war auch für uns eine neue Erfahrung. Noch nie zuvor hatten wir einen Journalisten so lange und so nah an uns herangelassen – wobei sich bis dahin auch niemand wirklich so sehr für uns interessiert hatte.
Sie platzte dabei gewissermaßen mitten in den Veränderungsprozess »Filialen an die Macht«, und obgleich manche von uns Sorge hatten, dass wir in einer solchen Umbruchsituation vielleicht nicht den allerbesten Eindruck hinterließen, war das Ergebnis ausgesprochen erfreulich.
Gabriele Fischer hatte nicht nur verstanden, was uns damals aus welchen Gründen umtrieb, sondern war obendrein tief beeindruckt von dem, was sie
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