Wuestenmond
gesehnt wie danach, ihn wiederzusehen, und stets hatte ich dieses Gefühl unterdrückt, weil der Wunsch so offensichtlich unlogisch war. Den Schmerz hatte ich nie richtig durchlebt; kein Mut dazu, nur Feigheit in den Knochen. Nun aber hatte ich eine unsichtbare Schwelle nach der anderen überschritten, die Liebe mit unbestimmten Gefühlen, wie im Traum, erlebt. Jetzt fand etwas statt, das ich nicht erwartet hatte. Es war total falsch. Es hätte nie so weit kommen dürfen. Nie zuvor hatte ich, nicht einmal andeutungsweise, eine solche Leidenschaft empfunden. Ich wollte nicht wie Olivia werden, deren Existenz aus Erinnerungen bestand, bis kein Platz mehr für die Gegenwart übrigblieb, und für die Lebenden schon gar nicht. Leider waren die Weichen schon in diese Richtung gestellt. Elias war Teil meiner Gedanken und Taten, jeder Atemzug war von ihm erfüllt: Elias war die Wüste, der Himmel, der Schatten und das Feuer – er war die Glut des Tages, die Milde des Abends, das Sternenlicht. Und deutlich und klar stand es vor mir: Eines Tages würde auch Elias nicht mehr da sein. Ich konnte ihn nicht vor Schaden bewahren. Das Gefühl seiner Verletzlichkeit erfüllte mich ganz. Vielleicht war es besser, sich diese Dinge nicht vorzustellen. Vielleicht wäre ich besser nicht hierhergekommen; dieser Film war eine dumme Idee. Aber ich hatte es nun mal gemacht. Verdammt noch mal, Elias, ich liebe dich mehr als irgend 212
jemanden auf der ganzen Welt. Und dafür gibt’s keinen Ersatz, weder hier noch anderswo. Das Problem hieß jetzt, damit fertig zu werden. Er streichelte meine Wange.
»Warum weinst du?«
Mein Gesicht fühlte sich naß an, seine Hand auch, wie sonderbar.
»Das kommt vom Sand. Ich weine nie. Seit meinem neunten Lebensjahr nicht mehr. Das war bei einer Schulfeier. Alle Kinder hatten neue Sachen an, ich mußte meine alten tragen. Es war Ende Juni und entsetzlich heiß in der Aula. Alle tranken Cola, aßen Eis.
Nur ich nicht. Olivia stotterte Schulden ab, ihr Gehalt war noch nicht da. Wir hatten nicht einmal Geld für die Straßenbahn…«
Der Satz blieb in der Luft hängen. Ich brach ab, obwohl ich weitersprechen wollte, aber es ging nicht. Ich starrte blindlings in die Nacht. Ich konnte nicht anders, die Tränen mußten einfach heraus.
»Es tut mir leid. Ich bin etwas verwirrt. Die Dinge entwickeln sich nicht, wie sie sollten.«
Er betrachtete lange mein Gesicht; vielleicht las er darin Verwunderung, die wie Schrecken aussah, und nun war er bestürzt.
Wortlos zog er mich an sich. Ich fühlte seine Brust an meiner und die ganze Länge seiner Schenkel. Ich schluchzte nicht, ich weinte nur; die Tränen hinterließen einen bitteren Geschmack in meinem Mund.
»Du paßt nicht in mein Leben, Elias.«
Er legte die Hand auf mein Gesicht, die Daumen auf die nassen Augenlider. Ich stöhnte, bewegte leicht den Kopf hin und her. Er hatte ein lebendiges Feuer in sich, das dunkel zu mir herüberfloß, eine Gefühlswelt, die mich umfing und zu diesem Schmerz noch hinzukam. Und gleichzeitig war er dem Anschein nach viel ruhiger als ich.
»Vielleicht ist es möglich, daß du zurückkommst.«
Ich hob den Kopf.
»Wozu?«
»Acht Tage nur, oder drei…«
»Ich weiß nicht…«
Er löste sich von mir, um mich ganz anzusehen.
»Hör zu. Du drehst Filme, fotografierst. Der Islam sagt, das Bild fängt die Seele des Menschen ein, macht ihn zu einem Ich, das keinen Schatten mehr wirft. Man kann darüber so oder auch anders denken. Amenena macht etwas Ähnliches: Sie fängt Träume ein. Sie sagt, daß der Geist unserer Ahnen, unser eigener Geist und der unserer Nachkommen ein Gewebe bilden. Daß alle Wesen, die 213
Lebenden und die Toten, auch die Pflanzen und Tiere, mit unsichtbaren Fäden verbunden sind.«
Ich hob die Schultern.
»Ich sehe meine Träume wie eine Reihe von Filmstreifen.«
»Amenena sagt, durch Träume erfährt man die Wahrheit.«
Ich suchte mein Taschentuch und putzte mir die Nase. Wohin führte dieses Gespräch?
»Kann sein. Das Leben ist ja voller Phänomene.«
Ein flüchtiges Lächeln glitt über seine Lippen.
»So denke ich auch. Amenena tut so, als sei es ganz leicht, daran zu glauben. Aber bei allem Respekt für das, was ich bei ihr lerne, zweifle ich an manchem. Amenena amüsiert sich darüber. Ich finde das nicht zum Lachen.«
Ich lehnte den Nacken an Elias’ Schulter. Mein nüchternes Denken wurde mit ihm nicht fertig. Ich staunte über die Klarheit in ihm. Er hatte eine unbegrenzte
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