Zärtlicher Eroberer
man ihn denn als solchen bezeichnen durfte, war allein Valerians Schuld. Er musste sich ja wieder ungestüm in ihr Leben drängen und alles mit leidenschaftlichen Küssen und erfahrenen Liebkosungen zuschanden machen, indem er ihr in Erinnerung brachte, wie es hätte sein können .
Sie legte ihre Serviette auf den Tisch und stand auf, obwohl sie ihren Toast noch gar nicht angerührt hatte. Aber das spielte keine Rolle, in diesem Moment hätte sie ohnehin keinen Bissen mehr hinunterbekommen.
„Ich muss dir leider mitteilen, dass ich nicht vorhabe, einen so lustlos vorgebrachten Antrag anzunehmen. Dadurch stände die Ehe von vornherein unter einem schlechten Stern“, sagte sie mit bewusst gelangweilter Stimme. Je eher sie aus dem Zimmer war, desto besser. Hoffentlich schaffte sie es noch bis zur Tür, ehe sie ihrem Zorn freien Lauf ließ.
Lucien erhob sich ebenfalls, und um seine sonst so perfekt inszenierte Beherrschung war es geschehen. „Meine angeblich so ‚lustlose‘ Art war dir eigentlich immer ganz recht, bis St. Just angefangen hat, dich vor meinen Augen auf der Terrasse zu küssen.“
Philippa erstarrte. Woher wusste er das? Aber wenn sie ihm jetzt vorwarf, er würde ihr nachspionieren, sah das so aus, als hätte er recht mit seiner Behauptung. Sie sah ihn noch einmal streng an, ehe sie den Raum verließ. „Du hast dich heute Morgen in einem armseligen Licht gezeigt, Lucien. Eifersucht steht dir nicht.“
Eingehüllt in einen schweren Wollumhang zum Schutz gegen die feucht-kalte Luft, stürmte Philippa hinaus in den Garten. Niemand sonst hielt sich bei diesem unfreundlichen Wetter draußen auf. Ihr war es recht so, sie hätte eine schreckliche Begleitung abgegeben. Sie hätte sich wirklich zu Höflichkeit zwingen müssen, obwohl alles in ihr danach verlangte, sich mehr als unhöflich zu benehmen.
Valerian und Lucien waren schlimmer als zwei Hengste, die sich um eine Stute stritten, und jetzt hatte Lucien ihr einen Heiratsantrag gemacht, zweifellos angetrieben von seinem Ehrgefühl und offensichtlich aus dem Glauben heraus, sie bräuchte Schutz vor Leuten wie Valerian. In den ganzen Jahren ihrer Beziehung hatte Lucien sie nie zu einer diskreten Affäre zu überreden versucht. Da war nie mehr gewesen als ein paar harmlose Küsse, eine leichte Berührung beim Tanz oder beim Ein- und Aussteigen in eine Kutsche. Nichts im Vergleich zu Valerians Verfüh rungsversuchen in aller Öffentlichkeit.
Luciens Küsse waren keine Verheißung auf mehr. Sie weckten nicht den Wunsch, die Beherrschung über sich selbst zu verlieren, die Grenzen des Anstands zu überschreiten. Valerians Küsse entzündeten ein wahres Feuer in ihr und zwangen sie förmlich, ihre Selbstbeherrschung fallen zu lassen. Valerians Küsse waren eine einzige Einladung zu schamlosem Verhalten.
Allein der Gedanke an Valerians kühne Anspielungen trieb ihr die Röte in die Wangen. Lucien hatte recht. Valerian machte keinen Hehl aus seiner Sinnlichkeit. Der Unterschied zwischen beiden Männern hätte nicht größer sein können. Auf der einen Seite Lucien mit seinem elegant kühlen Aussehen, seiner gezügelten Leidenschaft und seinem trockenen Humor; auf der anderen Valerian, mit seinem teuflisch schwarzen Haar und den funkelnden Augen, der sich über Begriffe wie Ehre und Konvention immer wieder hinwegsetzte. Wenn die Unterschiede so offensichtlich waren, warum zögerte sie dann?
Die Antwort machte ihr zu schaffen. Sie war sich nicht mehr sicher, ob Luciens kameradschaftliches Verhalten für sie beide genug sein würde. Es fiel ihr schwer zu glauben, dass Lucien mit der nüchternen Zuneigung zufrieden war, die sie beide verband. Er musste sich doch sicher mehr wünschen. Es musste doch sicher einen anderen Grund geben, warum er auf körperliche Freuden verzichtete. Philippa hätte zu gern gewusst, was er sich von diesem Opfer versprach. Sie konnte es verstehen, wenn er ihr offen erklärte, dass er aus Geldgründen heiraten musste, aber versteckte Motive gefielen ihr ganz und gar nicht. Sie waren für gewöhnlich finster, gefährlich und mit vielen Lügen verbunden.
Valerian stützte sich auf seinen Billardqueue und tat so, als verfolgte er, wie Beldon seinen Stoß ausführte. In Wirklichkeit war sein Blick auf einen Punkt über Beldons Schulter hinweg aus dem Fenster nach draußen gerichtet. Philippa ging allein im Garten spazieren. Als er am späten Morgen die Treppe hinuntergekommen war, hatte er zu seiner Enttäuschung erfahren, dass sie
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