Zauber der Versuchung: Roman (German Edition)
langweilig.«
»Du hast natürlich recht«, sagte Harry lachend und wurde sofort wieder ernst. »Es ist sehr lange her.«
»Nicht so lange«, tat Judith seine Bemerkung ab. »Fünf Jahre ungefähr, glaube ich.«
»Fünf Jahre sind eine Ewigkeit, wenn man sie weit weg von geliebten Menschen verbringt«, sagte er bedächtig.
»Ja, das kann ich mir vorstellen.« Etwas an ihm, etwas an dem Blick in seinen Augen, kam ihr seltsam vor. Nein, nicht seltsam, vielmehr optimistisch? Natürlich könnte sie sich irren. Dennoch ermahnte die winzige Stimme in ihrem Hinterkopf sie, vorsichtig zu sein. »Du hast eine sehr weit verzweigte Familie, wenn ich mich recht entsinne. Es muss schwer sein, so lange Zeit von ihr getrennt zu sein.«
»Ja, natürlich, aber meine Familie meinte ich nicht«, erklärte er mit einem bedeutungsvollen Blick.
Judith lachte, als hätte er gerade etwas sehr Amüsantes von sich gegeben. Guter Gott! Harry konnte nicht allen Ernstes annehmen, dass es eine Chance gab, ihre Beziehung wiederaufleben zu lassen? Kurz nachdem sie ihr Abenteuer beendet hatte, war er aufgebrochen, um Indien und den Orient zu bereisen, und soweit sie gehört hatte, konnte er das Familienvermögen währenddessen beträchtlich vermehren. Seit ihren gemeinsamen Tagen hatte sie ihn nicht mehr als ein- oder zweimal im Vorübergehen gesehen, obwohl sie ihn nicht bewusst mied. Dennoch schien es momentan geboten, seine offensichtlichen Andeutungen zu ignorieren. »Bist du schon länger in England?«
»Beinahe ein Jahr, Judith«, sagte er mit einer beunruhigenden Ernsthaftigkeit, »wir haben eine Menge zu bereden.«
»Haben wir das?«, fragte sie höflich lächelnd.
»O ja.«
Sie wählte ihre Worte mit äußerster Sorgfalt, denn Harry war ein sehr netter Mann und sie wollte ihn um nichts in der Welt verletzen. Dieser Klang in seiner Stimme jedoch, wie auch der Glanz in seinen Augen, könnten nicht einmal eine taube und blinde Frau darüber hinwegtäuschen, was er dachte. »Harry, ich bin ziemlich sicher, dass wir einander alles Nötige bereits vor Jahren sagten.«
»Das war ich auch«, bestätigte er. »Du kannst dir also denken, wie überrascht ich war.«
»Überrascht?« Sie sah ihn verwundert an. »Warum in aller Welt solltest du überrascht gewesen sein?«
»Du hast recht«, antwortete er lachend. »Ich hätte eigentlich nicht überrascht sein dürfen. Schicksal und dergleichen. Judith.« Er sah ihr tief in die Augen – zu tief für Judiths Geschmack. »Ich muss dich allein sprechen. Sicher gibt es hier eine Terrasse, eine Bibliothek oder einen unbenutzten Salon oder so, wo wir in Ruhe reden können.«
»Ich habe keine Ahnung.« Und nicht die Absicht, mit dir allein irgendwo hinzugehen. »Ich glaube, dies ist das Elternhaus von Lady Braxton, und ich bin zum ersten Mal hier. Wie dem auch sei.« Sie blickte sich rasch auf der Tanzfläche um. Gideon tanzte noch mit Susanna, also konnte sie von beiden keine Rettung erwarten. »Warum... gehst du nicht? Ja, geh, das ist gut.« Sie winkte ihn weg. »Geh, und sieh nach, was du finden kannst. Was die ungestörte Umgebung betrifft, meine ich. Ich warte hier auf dich.«
»Noch besser, warum kommst du nicht gleich mit mir?«
»Ich halte es für das Beste, wenn ich hier bleibe.« Sie beugte sich zu ihm. »Gerüchte, du weißt?«
Er lachte. »Wenn ich mich recht erinnere, hast du dich nie sonderlich um Gerüchte geschert.«
»Da hast du es!«, verkündete sie strahlend. »Ich habe mich verändert.«
»Ja, nun ja, sieht so aus.« Er betrachtete sie sehnsüchtig. Unter anderen Umständen wäre das überaus schmeichelhaft gewesen. Oder vor fünf Jahren noch. Aber sie hatten ihr Abenteuer gehabt. Es war vorbei, und sie zog es vor, es dabei zu belassen. »Du wartest also hier?«
»Gewiss doch«, log sie schamlos. »Wie angewurzelt an diesem Platz.«
»Hervorragend! Ich bin gleich wieder zurück.« Er machte einen Schritt auf sie zu, als wollte er sie hier, vor allen Leuten, in die Arme nehmen.
Prompt hob sie drohend den Zeigefinger. »Gerüchte, schon vergessen?«
»Ja, natürlich.« Er seufzte, warf ihr noch einen letzten, sehnsüchtigen Blick zu, drehte sich dann um und eilte zur Tür.
»Lass dir Zeit«, hauchte sie stumm und sah ihm nach. Was in aller Welt war in Harry gefahren? Und was mochte ihn überrascht haben? In all den Jahren waren sie stets höflich zueinander gewesen, wenn sie sich begegneten, freundschaftlich sogar, aber nie zuvor hatte er sie mit dieser
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