Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
verfügbare Platz wurde von Körben mit ordentlich gefalteten Kleidungsstücken und Bettwäsche eingenommen, und die Gerüche von Bügeleisen und kräftiger Seife durchdrangen das Haus.
Besorgt rief sie Tommy aus seinem Zimmer unter den Dachtraufen und ließ Rutledge dabei nicht aus den Augen. Ihr Sohn kam die Stufen heruntergepoltert, ein großer, grobknochiger Junge von vielleicht sechzehn Jahren, dessen Miene erst blanke Neugier zeigte, sich jedoch unsicher verfinsterte, sowie er die Gäste seiner Mutter sah.
Er blieb abrupt stehen, und sein Blick glitt von seiner Mutter zu Inspector Smith. Jeder Gedanke, der ihm durch den Kopf ging, zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.
Bevor Smith etwas sagen konnte, trat Rutledge vor und hielt ihm die Hand hin. »Hallo, Tommy. Mein Name ist Rutledge. Ich bin aus London. Du bist ein ziemlich guter Schütze. Du hast die Windschutzscheibe genau in der Mitte getroffen!«
Dieses Lob entlockte Tommy Crowell ein schüchternes Lächeln, als er Rutledge die Hand schüttelte. »Danke, Sir. Ich habe fleißig geübt.«
»Hast du schon mal mit dem Gedanken gespielt, zum Militär zu gehen?« Männer, die kaum mehr als ein Jahr älter als Tommy waren, hatten unter ihm gedient, wie Hamish ihm ins Gedächtnis zurückrief.
Mrs. Crowell wollte protestieren, doch Rutledge warf ihr einen warnenden Blick zu.
»Zum Militär?« Tommy zögerte. »Das würde Ma nie erlauben.«
»Womit gehst du am liebsten auf die Jagd? Mit der Schrotflinte? Oder mit einem Revolver?«
Ein Anflug von Wachsamkeit huschte über das Gesicht des Jungen. Das entging Rutledge nicht, und er fügte hinzu: »Ich kann mit einem Revolver besser zielen.« Als diese Worte über seine Lippen kamen, sah er sich über dem sterbenden Corporal Hamish MacLeod stehen und seinen Dienstrevolver ziehen, um dem Mann, dessen gequälte Augen um Erlösung flehten, den Gnadenschuss zu geben. Plötzlich schien in dem Häuschen kein Platz mehr zu sein und auch keine Luft zum Atmen, und er geriet augenblicklich in Panik.
»Fiona …« Rutledge konnte den Namen so deutlich hören wie in jener Nacht an der Somme, während das improvisierte Erschießungskommando dastand und zusah.
Eine Hand berührte seinen Arm, und Rutledge wäre fast aus der Haut gefahren.
Es war Smith, und im ersten Moment konnte er sich nicht erinnern, wo er war oder warum er dort war.
»Wie bitte?«, sagte er und schluckte schwer. Er hatte nicht gehört, was der Junge geantwortet hatte.
Tommy wiederholte nervös seine Antwort: »Ich habe noch nie mit einer echten Waffe geschossen.« Er drehte sich zu seiner Mutter um, und sie nickte. »Damit stelle ich mich geschickter an.« Er streckte die Hand nach einem Regal neben dem Kaminsims aus und nahm eine Steinschleuder herunter. Sie war robust und solide gebaut. Und jemand hatte sie so geschnitzt und gebeizt, dass sie aussah wie Horn. Mit einer Mischung aus Stolz und Sorge hielt er sie hin. »Sie nehmen sie mir doch nicht weg, oder? Ma lässt sie mich nicht mehr benutzen, aber ich betrachte sie immer noch gern.«
Rutledge sah sich die Schleuder genau an, drehte sie in seinen Händen und fragte: »Und damit hast du meine Windschutzscheibe zerschossen?«
Tommy nickte. »So muss es wohl gewesen sein. Jedenfalls habe ich mit der Schleuder geschossen.«
Aber Rutledge hatte eine Kugel aus dem Rahmen seines Automobils gezogen, wo sie stecken geblieben war, nachdem sie ihn knapp verfehlt hatte. »Und wo ist dann der Revolver?«
Tommy schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich weiß es nicht, Sir, ehrlich nicht. Ich muss ihn wohl verloren haben.«
Smith wollte etwas sagen, doch Rutledge kam ihm zuvor. »Hast du ihn auf der Weide verloren? Wo das Pferd war? Hast du neben der Hecke gelegen und ihn fallen lassen, nachdem du auf meinen Wagen geschossen hattest? Da, wo die Straße eine Kurve macht«, fügte Rutledge hinzu, da Tommy anscheinend nicht begreifen konnte, von welchem Ort genau die Rede war.
»Da, wo die Straße eine Kurve macht, liegt die obere Weide.« Das Gesicht des Jungen veränderte sich. »Inspector Smith hat nichts von der oberen Weide gesagt - ich -, er hat gesagt, wo die Pferde sind, und die sind auf der Koppel. Zur oberen Weide gehe ich nicht. Nicht mehr.« Sein Ungestüm war nicht zu überhören, und sein Gesicht war blass geworden, was ihn noch jünger wirken ließ als seine Jahre.
»Und warum nicht? Liegt es daran, was du dort getan hast?«
»Nein, Sir, nein … Ich mag diesen toten Soldaten dort nicht. Ich
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