Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
frühen neunzehnten Jahrhundert, als das Dorf hierher verlegt wurde, und man es vollständig neu aufgebaut hat.«
»Ich würde meinen, der Künstler war begabt.« Sie warf einen
abschließenden Blick nach oben und kehrte dann an seine Seite zurück. Er hatte bei der Tür zur Sakristei auf sie gewartet.
Sie gingen zur Tür hinaus, schlossen sie hinter sich und liefen gerade über die Steinfliesen zum Haupteingang, als hoch über ihren Köpfen ein Geräusch zu hören war.
Als hätte etwas - oder jemand - versehentlich den Glockenschwengel berührt. Das Echo des Tons schien irgendwo über ihnen gefangen zu sein, ein Hall, der nirgendwohin entweichen konnte.
Rutledge blickte sofort auf, weil er sehen wollte, ob sich der Glockenstrang bewegt hatte. Er regte sich kaum merklich, aber ob er berührt worden war oder ob es am Wind lag, der durch die Schallfenster neben dem Zifferblatt drang, ließ sich nicht mit Sicherheit sagen.
Es reizte ihn gewaltig, die Steinstufen zu der Holztreppe hinaufzusteigen und nachzusehen, aber er musste auch auf Mrs. Channing Rücksicht nehmen.
Sie musste ihm etwas angesehen haben, denn sie sagte: »Tun Sie es nicht …«
»Ich glaube, über uns ist jemand«, sagte er leise zu ihr. »Ich möchte sehen, wer es ist. Öffnen Sie die Tür, die vom Turm ins Freie führt, und machen Sie sich gleich auf den Rückweg ins Gasthaus. Ich komme schon allein zurecht. Er kann nicht ewig dort oben bleiben.«
»Nein, wenn ich fortgehe, wird er mich sehen. Dann wird er wissen, dass Sie ihn erwarten, und er wird gewappnet sein. Das kommt gar nicht infrage.«
Sie hatte recht.
Er zögerte nur noch einen Moment und sagte dann: »Bleiben Sie hier.«
Er stieg flink und so leise wie möglich die steinernen Stufen hinauf, doch seine Schritte erschienen ihm so laut, dass sein Fortkommen überall im Turm zu vernehmen war.
Er gelangte auf die Höhe, auf der die Holzstiegen begannen,
und blickte in die Dunkelheit des Turms auf. Ein einziges vermodertes Blatt schwebte von oben herab und streifte seine Schulter.
Durch die Schlitze der Schallfenster fielen schräge Lichtbalken auf die Glocke, aber darunter und darüber war es düster. Und er konnte beobachten, wie die hellen Streifen verblassten und der Turm in der einsetzenden Dämmerung vollständig finster zurückblieb.
Niemand war auf den Stufen gewesen, als er den Aufstieg begonnen hatte. Und niemand hatte neben der Glocke gestanden. Darauf hätte er sein Leben gewettet.
Wer auch immer es war - derjenige war hoch in den Kirchturm hinaufgeklettert und hatte sich dort in der Dunkelheit verborgen, die von Minute zu Minute dichter wurde. Und Rutledge hatte keine Taschenlampe bei sich.
Er blieb stehen.
Es gab bessere Methoden, denjenigen zu schnappen.
Er stieg wieder nach unten und unternahm diesmal nicht den Versuch, leise aufzutreten.
Mrs. Channing stand da, und ihr Gesicht, das sie ihm zugewandt hatte, war ein verschwommener heller Fleck in der Dunkelheit. »Ian?«
»Lassen Sie uns verschwinden«, sagte er und hielt ihr die Turmtür auf.
Schweigend liefen sie den Gehweg zur Church Street hinunter und bogen dann in die Whitby Lane ein.
»Gehen Sie in Hensleys Haus und warten Sie dort auf mich«, sagte er zu ihr. »Ich will mich zur Kirche zurückschleichen.«
»Es wäre mir lieber, wenn Sie das nicht täten …«
»Mir auch, aber mir bleibt gar nichts anderes übrig. Gehen Sie, bevor er mir entwischt.«
Sie tat, was er gesagt hatte, und lief mit forschen Schritten los, ohne sich noch einmal umzusehen. Ein heftiger Windstoß ließ einen Staubwirbel vor ihren Füßen kreisen, als Rutledge sich
auf den Rückweg machte. An der Kreuzung stand ein Haus, doch aus den Fenstern drang kein Lichtschein. Er presste sich flach an die Hausmauer und rückte in ihrem Schutz zum nächsten Haus vor, das der Church Street zugewandt war.
Dort blieb er stehen. Sein Blick auf die Kirche war unverstellt.
In den Häusern am Straßenrand herrschte Ruhe, und bis auf einen großen Hund, der den Rinnstein beschnüffelte, war niemand unterwegs. Vor einer der Türen stand ein Automobil, in dem niemand saß, neben einer anderen ein Lastwagen. Aus diesem Haus drangen Hammerschläge, als beendete ein Handwerker gerade seine Arbeit. Das Klopfen war rhythmisch und gleichmäßig, und dann trat Stille ein. Irgendwo konnte er die Stimme eines Kindes hören, zu einer Frage erhoben, und ein anderer Hund bellte den ersten zur Warnung an, damit er sich vorsah, wo er
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