Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
herumschnüffelte.
Rutledge wartete eine Viertelstunde. Dann öffnete sich die Kirchentür und jemand kam heraus und schloss sie eilig hinter sich. Er sah prüfend in die Nacht, ehe er die Kirche auf der Seite umrundete, die dem Pfarrhaus abgewandt war.
Rutledge sprintete los, um der dunklen Gestalt zu folgen.
Er war schnell, und er war entschlossen, doch als er die Kirche erreichte, war es zu dunkel, um zu sehen, wohin sich die Gestalt gewandt hatte - aufs offene Feld hinaus oder nach Norden, in Richtung Frith’s Wood, oder ob sie ganz einfach in einem der Gärten hinter den Häusern verschwunden war, wo sie so gut wie unsichtbar sein würde.
Als er nach einer guten halben Stunde auf keinen Anhaltspunkt gestoßen war, brach Rutledge seine Suche ab.
Auf dem Rückweg zu Hensleys Haus sagte er: »Diesmal war es kein toter Soldat. Es war ein lebendiger Mensch.«
»Und er hatte keinen guten Grund, auf diesen Turm zu klettern. Es sei denn, er wäre dir vom Wäldchen aus gefolgt.«
»Wusste er, dass man den Kirchturm besteigen kann, bevor
ich raufgeklettert bin?«, fragte Rutledge und machte sich weitere Gedanken. »Ist er in die Kirche gekommen, während ich hoch oben im Turm war und ihn nicht sehen konnte? Ich war vollauf damit beschäftigt, den besten Ausblick zu suchen. Wenn die Kirchentür geöffnet worden wäre, hätte ich es nicht gehört.«
Hamish gab ihm keine Antwort.
»Und wohin ist er jetzt verschwunden?«, fuhr Rutledge unbeirrt fort. Aber vom Kirchturm aus konnte er die Häuser sehen, jedes mit einem Garten dahinter, und von einigen führte ein schmaler Fußpfad zu einer der wenigen Straßen. Es gab Hunderte von Stellen, wo man sich unauffällig verstecken konnte, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Und derjenige, der sich verbarg, war im Vorteil, denn er kauerte im Dunkeln, nutzte den Schatten eines Schornsteins oder presste sich flach an eine Tür. Es war ein Katz-und-Maus-Spiel, in dem Rutledges Chancen ausgesprochen schlecht standen.
Dieser Gedanke ließ ihn fluchen.
Seine Schritte hallten, die Straße lag still da und in den Geschäften herrschte Dunkelheit. Bald würde Mrs. Melford in ihrem Esszimmer den Tisch decken und ihn erwarten. Und Mrs. Channing wartete ebenfalls auf ihn.
Hinter ihm nahte ein Lastwagen. Er konnte die Gangschaltung hören, als das Fahrzeug um die Ecke bog, und auch die Geräusche, mit denen der Fahrer beschleunigte, um die unbedeutende Steigung leichter zu bewältigen.
Anfangs stellte er keinen Zusammenhang her. Er nahm an, die Handwerker hätten für heute Schluss gemacht und fuhren aus Dudlington hinaus. Oder zum Oaks auf ein Bier, bevor sie sich auf den Rückweg machten.
Das Seltsame war nur, dass sie vergessen hatten, die Scheinwerfer des Lastwagens anzuschalten.
Das schwere Fahrzeug war dicht hinter ihm, als er begriff, dass kein Handwerker am Steuer saß. Nicht mit der Geschwindigkeit - nicht ohne Licht.
Hamish schrie etwas, und Rutledge hechtete mit einem Satz in den kleinen Rosengarten vor Grace Letteridges Haus.
Der Kotflügel des Lastwagens streifte sein Bein und zerrte an seinem Schuh. Er traf fest zwischen den stoppeligen Rosenstöcken auf, von denen sich einer in seine Schulter bohrte. Sein Arm schmerzte, als er mit seinem gesamten Körpergewicht darauf landete. Dann wälzte er sich schleunigst von der Stelle.
Das lang gezogene, durchdringende Geräusch, mit dem sich Metall an Stein schabte, erfüllte die Luft, und die Mauer brach nach innen herunter und fiel auf Rutledge, als der Kotflügel des Lastwagens kräftig daran entlangschrabbte, bevor das Steuer herumgerissen wurde. Die schweren Steine stürzten auf Rutledges Knöchel und Schienbeine, während er versuchte zu erkennen, wer am Steuer saß.
Vom Ende der Straße ertönten laute Rufe, und zwei Männer rannten hinter dem Lastwagen her und befahlen dem Fahrer anzuhalten. Auf beiden Straßenseiten wurden Türen weit aufgerissen, Licht fiel auf das Kopfsteinpflaster und Menschen, die der Lärm angelockt hatte, zeichneten sich als Umrisse ab. Er hörte den Aufschrei einer Frau, und dann war der Lastwagen mit quietschenden Reifen in die Holly Street eingebogen, bevor er in Richtung Oaks auf der Landstraße verschwand.
Rutledge begann die Blessuren zu spüren, die er sich zugezogen hatte. Sein Knöchel pochte, sein Arm wurde unter ihm taub und etwas stach in seinen Bauch, als wollte es sich durch sein Hemd und in sein Fleisch bohren.
Einen Moment lang blieb er dort liegen und versuchte, sich
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