Zigeunerprinz
Reformisten geworden war, Lamartine, hatte sich erhoben und sprach zu der Versammlung. Er stand aufrecht, und sein dünnes Gesicht strahlte den innigen Glauben an das aus, wofür er schon so lang mit aller Kraft gearbeitet hatte. »Meine Freunde, die Zeit ist gekommen. Der König und die Orleanisten sind ge-fallen. Es war kein blutiges Ende, sie haben sich in ihrer eigenen Falle gefangen. In der Vergangenheit gab es die Revolution der Freiheit und die Konterrevolution des Ruhmes. Jetzt haben wir die Revolution des öffentlichen Bewußtseins und die Revolution der Verachtung!«
Zustimmender Jubel antwortete ihm. Als es wieder ruhig war, fuhr Lamartine fort: »Wir müssen diese Gelegenheit ergreifen, die uns geschenkt wurde, denn eine solche wird nie wiederkehren. Wir können uns der Duchesse d'Orleans und dem Comte de Paris anschließen und hoffen, unseren Einfluß zu nutzen, damit wir unsere Ziele durchsetzen können - oder wir können eine provisorische Regierung bilden, eine Zweite Republik. Es liegt an uns. Aber wir müssen uns entscheiden, wir nassen handeln. Schon sammeln sich die legitimistischen Gefolgsleute des Comte de Chambord wie die Geier. Schon treffen sich die Radikalen und Sozialisten im Hotel de Ville, um eine eigene Regierung zu bilden. Wir können kein zweites Blutbad ertragen, keinen neuen Bruderkrieg zwischen der Aristokratie und der Assemble oder zwischen der Assemble und der Kommune. Es liegt an uns, Paris - und ganz Frankreich - vor einem neuen Absturz ins Chaos zu bewahren. Es liegt an uns, unseren Einfluß dem Besten für die Allgemeinheit zukommen zu lassen und mit seinem Gewicht für Stabilität zu sorgen. Wir allein können das schaffen!«
»Keineswegs, Dichter!«
Das hatte de Landes geschrien. Er stand in der Tür, eine Pistole in der Hand. Hinter ihm drängten Bewaffnete in den Raum. Es waren finstere Gestalten, bärtige, vernarbte Männer mit glitzernden gefühllosen Augen. Zusätzliche Pistolen und Dolche steckten in den Bauchbinden ihrer Hosen. Sie schwärmten aus, um die Männer im Raum zu umzingeln, schlossen sie ein wie Ratten in einem Faß. Die Reformisten sprangen von ihren Stühlen auf, fluchten, brüllten und wirbelten herum, um sich den Männern zu stellen, die sie langsam zurückdrängten.
Mit entsetzt geweiteten Augen kam Mara auf die Beine. Warum hatte niemand Alarm geschlagen? Wo war Luca? War er tot, ermordet, bevor er sie hatte warnen können?
Oder hatte er sich auf diese Weise gerächt, hatte er sie verraten, um sich für den Makel zu revanchieren, den man auf seine Geburt geworfen hatte? Sie schaute auf Juliana und sah dieselben Ängste in den Augen von Roderics Schwester stehen.
Juliana blickte auf Roderic und ihren Vater. Die Mienen beider Männer waren grimmig, ließen jedoch keine Überraschung erkennen. Das war nur natürlich, da sie geahnt hatten, daß ein Überfall stattfinden könnte, dennoch war da etwas, das sie nicht verstand.
Plötzlich durchfuhr sie ein Gedanke. Er war so schauderhaft, daß sie spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich und schmerzhaft in ihrem Herzen gefror. War es möglich, daß Roderic unbewaffnet und furchtlos war, weil er Teil dieses Angriffs war? Machte er keine Anstalten, sich zu verteidigen, weil er diesen ganzen diabolischen Betrug manipuliert hatte?
Was, wenn sie von Anfang an gar nicht in die Affäre mit Roderic gezogen worden war, damit de Landes ihn zu seinem Sündenbock machen konnte, sondern um dem Prinzen einen Vorwand zu geben, unter dem er auf dem Ball erscheinen und das Attentat verhindern konnte? Hatte Roderic nicht angedeutet, daß er selbst sie gesehen hatte, daß er sie begehrt und letzten Endes seine eigene Verführung arrangiert hatte? Was, wenn das Attentat nur inszeniert worden war, um das Vertrauen König Louis Philippes zu erschleichen und zugleich Roderic und seine Männer von den Legitimisten abzusondern, die dafür verantwortlich waren ?
Es war nicht möglich. Roderic hatte ihre Großmutter gerettet, wodurch de Landes jede Kontrolle über sie verloren hatte.
Aber er hatte das erst getan, nachdem das Attentat auf Louis Philippe fehlgeschlagen und sie nicht mehr von Nutzen war. Unmittelbar darauf war König Rolf eingetroffen. Hatte Roderic möglicherweise gewußt, daß sein Vater unterwegs nach Paris war, hatte er gewußt, daß Rolf das Spiel mißbilligen würde, das er mit ihr spielte? Er hatte ihr die Heirat angeboten, als der Skandal ihrer angeblichen Verführung publik geworden war, aber er
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