Zigeunerprinz
dargestellt waren. Die anderen Höfe waren dagegen mit exakt gestutztem immergrünem Gebüsch bepflanzt, das zu komplizierten geometrischen Mustern angeordnet war. Wenn man von Zimmer zu Zimmer wandelte, konnte man immer ins Grüne und Freie blicken. Im Sommer brachten blühende Blumen und Kräuter zusätzlich Farbe ins Bild, aber jetzt, im Spätnovember, waren dort nur noch dunkelgrüne Büsche, umgegrabene Erde und ein paar leere Urnen zu sehen.
In Maras Augen war das Haus nichts weniger als ein Palast. Insgesamt gab es, so hatte sie aus zuverlässiger Quelle erfahren, ungefähr siebzig Zimmer unter den kompliziert angeordneten Giebeln. Oberhalb des Südhofes, des Haupteinganges, befand sich die Hauptgalerie, eine lange Halle, in der die Haupttreppe vom Eingang aufstieg, die zu den öffentlichen Empfangsräumen im linken Flügel führte. Zur Rechten befanden sich die Gemächer des Prinzen inklusive verschiedener Vorzimmer, Salons und anderer Räumlichkeiten, und dahinter die Staatszimmer für König Rolf und Königin Angeline, die sich sämtlich um den Osthof gruppierten. Um den Nordhof und den Westhof herum waren teils wunderliche ovale oder kreisförmige Privatsalons angeordnet, außerdem gab es dort eine lange Galerie, die manchmal zur körperlichen Ertüchtigung oder zum Tanzen verwendet wurde, sowie verschiedene weitere Salons, Vorzimmer, Schlafzimmer und Ankleidezimmer. Direkt hinter Maras Suite, die aus einem Salon, einem Schlafgemach und einem kleinen Ankleideraum bestand, gab es eine Hintertreppe, die zu den Küchen im Erdgeschoß hinabführte. Dort unten befanden sich außerdem die Quartiere der Bediensteten, die Lagerräume, der Kutschenstall und die Pferdeställe.
Zweifellos war es eine riesige und beeindruckende Residenz, aber dennoch wirkten Mobiliar und Wandbezüge, Gemälde und Emaillewaren, Vasen und Kristallüster und Porzellan, obwohl sie einst von höchster Qualität gewesen sein mußten, verwahrlost und schäbig. Man hatte wenig getan, um das große, verschachtelte Gebäude den Erfordernissen der Zeit anzupassen; während es in vielen Pariser Häusern bereits Gaslampen gab, mußte man hier immer noch zu Kerzenlicht greifen. In den dunklen Winkeln der verschiedenen Zimmer lagerten Schätze, verdeckt von uraltem Staub und Überresten zerbrochenen Mobiliars. Die Fenster hätten geputzt und die Decken von dem Fett und Dreck vergangener Jahrzehnte befreit werden müssen. Nicht einer der geräumigen Kamine im Haus zog richtig, und die Küchenangestellten waren so langsam, daß das Essen immer nur lauwarm auf den Tisch kam. Im Eingangshof lagen Pferdeäpfel und draußen auf der Straße vor der Küchentür ekelhafte Müllhaufen, die man lieber nicht genauer untersuchen wollte. In manchen Flügeln verfolgte einen der Gestank ungeleerter Nachttöpfe überallhin; in anderen war der Geruch nicht zu identifizieren und unbeschreiblich, aber ebenso überwältigend.
Man hatte Mara Bettruhe befohlen. Sie hatte aus purer Notwendigkeit zwei Tage lang gehorcht, freiwillig zwei weitere geruht, aber am vierten Tag rebellierte sie. Das Essen, das man ihr brachte, war ungenießbar; das Mädchen, das es servierte, eine Schlampe. Die Laken ihres Bettes hatten von Anfang an muffig gerochen und waren nicht gewechselt worden. In den Falten der Bettvorhänge und auf dem fleckigen, halb blinden Spiegel an der Wand nistete der Staub, und auf dem Teppich vor dem Bett hatte sich genug Dreck angesammelt, um Blumen darin zu pflanzen. Offenbar war ihr jeder
Besuch verboten worden, denn niemand kam zu ihr. Der Ekel, aber auch die Langeweile und das Gefühl, daß kostbare Zeit ungenutzt verstrich, trieben sie schließlich aus ihrem Zimmer.
Sie hatte Roderic seit dem ersten Morgen nicht mehr gesehen. In ihrem Hinterkopf hatte sie die vage Erinnerung an ein Gespräch, das sie am Tag ihrer Ankunft in Paris mit ihm geführt hatte. Sie befürchtete, daß der Cognac auf den völlig leeren Magen, verbunden mit ihrer Erschöpfung und ihren Schmerzen sie hatten indiskret werden lassen. Aber sie konnte sich nicht genau entsinnen, worüber sie gesprochen hatten. Sie hatte tatsächlich das Gedächtnis verloren. Sie nahm nicht an, daß sie allzu offenherzig gewesen war, ansonsten hätte sie sich vermutlich nicht mehr im Haushalt des Prinzen befunden. Aber trotzdem war es möglich, daß sie etwas gesagt hatte, was ihn dazu verleitet hatte, sie zu isolieren und ihrer so praktischen Amnesie zu mißtrauen.
Sie hatte sich mehr als einmal
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