Zigeunerprinz
freien Lauf zu lassen; dennoch fühlte er ihn. Er hatte gedacht, daß er diese Frau, die er nur als Chere kannte, vielleicht langsam besser verstehen oder daß sie ihm vertrauen würde. Oder daß er, wenn ihr Gedächtnisverlust nicht gespielt war, sie vielleicht mit reiner Willenskraft dazu bringen konnte, sich zu entsinnen. Keines von beidem war eingetroffen. Das Rätsel, das sie darstellte, begann ihn zu verfolgen. Der Gedanke, daß sie unter seinem Dach im Bett lag, hatte ihn in den letzten Tagen ständig abgelenkt, während er den Papierkram erledigt und die über seiner Abwesenheit vernachlässigten Kontakte aufgefrischt hatte. Er hatte sich über ihre Genesung auf dem laufenden halten lassen, weil er den Tag kaum erwarten konnte, an dem sie so bei Kräften war, daß er sie weiter befragen konnte. Daß sie ihm immer noch auswich, machte ihn ruhelos und unzufrieden. Er erkannte an sich inzwischen alle Symptome für einen erdrückenden, königlichen Groll und amüsierte sich voll Ingrimm darüber.
»Dann machen Sie, was Sie wollen. Ich wünsche nur, daß sie ordentlich angezogen sind, und da Ihnen ganz offenbar die Mittel dazu fehlen, liegt die Verantwortung bei mir. Die Vorräte des Haushalts, Lebensmittel, Wein und andere Güter, können Sie erwerben, wie und wo Sie wollen; lassen Sie die Rechnungen herschicken. Das gleiche trifft auf Ihre Kleider zu. Aber ich behalte mir das Recht vor, darüber zu entscheiden, was an Material und Schnitt angemessen ist.«
»Ich werde versuchen, Sie nicht zu enttäuschen.«
»Es wäre noch besser, wenn Sie versuchten, mir zu gefallen.«
Das Einstellungsgespräch, wenn man es so bezeichnen konnte, schien damit zu Ende zu sein. Mit eisigem Lächeln setzte sie ihren ungekosteten Wein wieder ab und stand auf. »Besser für wen?« »Oh, für mich natürlich«, antwortete er. »Für wen denn sonst?«
» Bonjour , Mademoiselle. Mein Name ist Worth. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
Es war riskant, wieder ins Maison Gagelin zu gehen, das Stoffgeschäft in der Rue de Richelieu, das sie mit ihrer Großmutter zusammen besucht hatte. Es schien unwahrscheinlich, daß sich jemand an eine einzelne Kundin erinnern würde, da wo seitdem viele Menschen den Laden betreten haben mußten. Sie hatte damals nur einen Schal gekauft, keine große Bestellung aufgegeben wie etwa für eine Aussteuer oder eine Begräbnisausstattung. Es gab überhaupt keinen Grund, warum sie einem der Verkäufer im Gedächtnis geblieben sein sollte, und sie wußte, daß sie hier Qualitätsware erstehen konnte, an der der Prinz nichts bemängeln konnte.
Es war Pech, nichts weniger, das denselben jungen Engländer, der ihr den Schal verkauft hatte, auf sie aufmerksam werden ließ. Sie war versucht, auf dem Absatz kehrtzumachen und den Laden wieder zu verlassen, aber das wäre nicht nur dem Menschen gegenüber unhöflich gewesen, der ihr zuvor eine große Hilfe gewesen war, sondern wäre wohl auch Luca merkwürdig erschienen, der mit ihr gekommen war.
Sie hatte zuerst geglaubt, der reine Altruismus habe den Zigeuner dazu veranlaßt, sie zu begleiten, daß er vielleicht das Gefühl gehabt hatte, sie sei allein auf der Straße nicht sicher. Aber je weiter der Morgen vorangeschritten war und je länger er ihr auf dem Streifzug nach dem frischesten Fleisch in die boucheries, zum Probieren der besten Törtchen und Marmeladen in unzählige pätisseries und auf der Suche nach dem frischesten Gemüse durch die Stände auf dem offenen Markt von Les Halles gefolgt war, war unverkennbar, daß er sich langweilte. Er hätte es viel eher vorgezogen, mit der Truppe zusammenzusein, die auf irgendeiner Expedition, deren Zweck man ihr nicht erklärt hatte, zum Montmartre aufgebrochen war. Das einzige, was ihn davon hatte abhalten können, vermutete sie stark, war ein anderslautender Befehl. Er genoß ihre Gesellschaft, aber was sie tat, war Sache der Frauen, nicht der Männer. An manchen Orten fühlte er sich unwohler als an anderen, das spürte sie, und am unwohlsten hier im Stoffgeschäft, wo einer der Angestellten mißtrauisch seinen Aufzug, seinen Ohrring und das Kauri-Amulett beäugt und hörbar geschnieft hatte, bevor er sich umdrehte.
Luca ließ sich nicht anmerken, daß ihm das nicht entgangen war. Er lehnte an einer Marmorsäule und musterte müde und mißbilligend den roten Perserteppich, die damastbezogenen Wände, die Kristallüster an Ketten, die sich in den hohen Spiegeln spiegelten, die Treibhausblumen und die
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