Zigeunerstern: Roman (German Edition)
etwa eine halbe Stunde vergangen sein, als Polarca mir auf die Schulter tippte.
»Yakoub …?«
»Stör mich nicht, ich arbeite!«
»Ich … ich wollte dir nur danke sagen«, sagte er mit sehr gedämpfter Stimme.
Niemals zuvor hatte ich an Polarca so etwas wie Demut kennengelernt. (Übrigens auch seitdem nicht wieder, aber dies nur nebenbei.)
Natürlich konnte von nun an keine Rede mehr davon sein, dass ich seine Schichten mit abriss. Wenn ich damit noch viel länger weitergemacht hätte, hätte mich das sowieso umgebracht. Trotzdem, es war mir gelungen, Polarca über eine schwere Tiefstrecke hinwegzukriegen, egal wie empfindlich dabei seine Männlichkeit in Mitleidenschaft gezogen worden sein mochte. Und Polarca war nun wirklich Rom genug, also gescheit genug, einzusehen, dass ein Mann gelegentlich mal seine kostbaren männlichen Symbolklunker und die männliche Empörtheit und den sogenannten männlichen Stolz außer acht lassen und ganz schlicht und einfach die Hilfe anderer annehmen muss, wenn er sie wirklich braucht. Polarca ist wahrhaftig zäh und ein Stehaufkerlchen, aber ein Zeitvertrag auf Mentiroso kann wirklich den stärksten Bullen umbringen. Und die Arbeitsbedingungen hätten Polarca fast umgebracht, und das wusste er. Schön, ich kriegte ihn über die Runden. Und zwei-, dreimal später im Verlauf unserer gemeinsamen Sklavenzeit auf Mentiroso, tat ich es wieder. Jedes Mal war er wütend auf mich, und ich vermute, er hat mir das alles nie so recht verzeihen können; aber er erlaubte mir, ihm zu helfen. Als seine Zwangsverpflichtung ausgelaufen war, hatte ich noch fast drei Monate abzuleisten, wegen der verschiedenen Ausfälle, die sich auf meinem Leistungskonto angesammelt hatten, und Polarca war bereit, die Restzeit noch zu bleiben und täglich drei Stunden von meinem Debet abzutragen, damit ich früher von Mentiroso wegkommen könne. Ich ließ es zu. Ich musste es tun, wenn ich überleben wollte. Und so steht es zwischen Polarca und mir seither immer und unverbrüchlich.
4
Selbst in der endlosen Zeit, in der ich nichts tat, als in meiner Zelle zu sitzen und mit den nackten Füßen über den goldenen Fußboden zu fahren, verlor sich in mir nicht die Überzeugung, dass ich dabei war, eine große Schlacht zu schlagen.
Ich fühlte es einfach – ich führte einen Krieg. Einen klar bewussten, erbarmungslosen Krieg gegen dieses schamlose Geschöpf, das aus dem Samen meiner Lenden entsprossen war und das den Versuch gewagt hatte, frech meinen Platz einzunehmen. Und durch mein bloßes Vorhandensein als Gefangener an diesem Ort, würde ich seinen Untergang herbeiführen. Das wusste ich mit Gewissheit und ohne den geringsten Zweifel. Ab und zu schickte ich meine Seele zu Streifzügen aus, durch die Mauern des Gebäudes hinauf, in dem ich eingekerkert saß, um die zerquälte Seele dieses Shandor abzutasten, die sich da hoch über meinem Gelass zuckend selber auffraß. Er wusste nämlich nicht, was er mit mir tun sollte, und diese Ungewissheit trieb ihn zum Wahnsinn. Freilassen, das konnte er nicht. Und er wagte nicht, mich ermorden zu lassen. Und mich hier eingekerkert lassen auf unbestimmte Zeit, das konnte er ebenfalls nicht, jedenfalls nicht, ohne die zornige Empörung der Welten auf sich zu ziehen.
Und ich entsandte meine Seele weiter hinaus, in die Tiefen der Nacht. Die Finsternis loderte von Feuern. Ich erblickte die Sternensonnen der Menschheit. Ich sah die vielen Welten, die wir uns angeeignet hatten. Und dann – dort, dort plötzlich – auf der Stirn des Himmels …
Dort erblickte ich den Zigeunerstern, unsere Sonne, hoch droben flammte und pulsierte sie. Und wie sie mich zu sich heranzog! Ich fühlte, wie sich Titanengewalten auf mich konzentrierten, wie sie durch mich hindurch ihr Kräftespiel trieben. Mich aufwärts zogen.
Alle diese Sternensonnen – alle diese Welten!
Und dennoch gibt es für uns nur die eine Welt. Den einen Weg.
5
Syluise kam zu Besuch, nein, nicht ihre Gespenstform, sondern Syluise selbst, und sie war das erste menschliche Wesen von Fleisch und Blut, das seit meiner Einkerkerung zu mir kam. Außer natürlich, man möchte Shandor als zu den menschlichen Wesen gehörig ansehen. Vermutlich muss man das wohl sogar.
Sie trug keine Geisteraura um sich, aber trotzdem kam sie mir nicht so recht wirklich vor. Aber Syluise tut das sowieso selten. Nur war es diesmal sogar noch weniger wirklich als sonst. Ich dachte, es müsse sich wohl um eine
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