Zigeunerstern: Roman (German Edition)
gesehen hätte. Ich hätte ihr ja gern deine ergebenen Grüße bestellt, aber du weißt ja, wie verschwommen alles wird, wenn man so weit in die Vergangenheit zurückgeistert.«
»Du hast Syluise in Atlantis gesehen? Bist du sicher, dass du keine Witze reißt?«
»Das bin ich, wenn du wünschst, dass ich ernst bin.«
Ich liebe Polarca, aber es geht mir gegen den Strich, wenn ich mit seinem Geist zu tun habe. Gewiss, es ist ganz in Ordnung, und du erwartest es sogar, dass dein Rom-Bruder dich hin und wieder ein bisschen kitzelt und dich anfrozzelt, ganz besonders, wenn er dich seit etlichen Jahren kennt und deshalb ein Experte für deine kitzligen Stellen ist. Und natürlich erwartet er, dass du ihn deinerseits ebenfalls neckst und anmachst. Aber wenn Polarca auf Geisterreise ist, hat er alle Trümpfe in der Hand. Ein Geist kennt nämlich nicht nur die Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch einen schönen Brocken von der Zukunft. Immer wieder habe ich Polarca gesagt, er nützt einen Vorteil unfair aus. Aber das ist ihm piepegal. Er knufft mich an sechserlei wunden Punkten gleichzeitig. Manchmal bekomme ich dabei das Gefühl, ein ziemlich dummer Arsch zu sein, und so was bin ich eigentlich nicht gewöhnt. Bei ihm komme ich mir manchmal vor wie ein Gajo, der versucht, sich mit einem Rom einzulassen. Und doch, ich weiß, er liebt mich. Er sagt, auch wenn er mich so nervt wie gerade eben, dass er das aus Liebe zu mir tut.
8
Wieder verschwand Polarca. Und mir blieb ein schaler Nachgeschmack, ein Gefühl der Beunruhigung und Verärgerung, davon zurück. Er sagte, dass er Syluise gesehen habe. Und ausgerechnet in Atlantis. Es war ziemlich lange her, dass ich überhaupt an Syluise gedacht hatte. Und mir wäre es lieber gewesen, wenn Polarca sich nicht bemüht hätte, sie mir ausgerechnet jetzt wieder in Erinnerung zu rufen.
Ich sah sie richtig vor mir, wie sie da drunten in Atlantis in Kutschen herumfuhr. Wie sie die uralten Herrscher dieser mächtigen Stadt zu wilder Raserei trieb – und wahrscheinlich die hohen Damen ebenso. Wofür würden die Leute sie dort halten, sie mit ihren goldenen Haaren und überhaupt? Die würden doch nie zuvor ein Wesen mit Goldhaar gesehen haben, diese bräunlichen dunkelhaarigen Atlantisbewohner: sie musste zwischen ihnen strahlen wie eine Göttin. Wie eine Venus, eine hellstrahlende Venus.
Atlantis war nämlich eine Stadt der Roma, müsst ihr wissen. Was immer an anderen Sagen ihr darüber gehört habt, vergesst sie! In Wahrheit haben wir Roma Atlantis gegründet; wir schufen seine wundersame Großartigkeit und Pracht; wir waren die Geschlagenen, als es im Meer versank. Es war, vor langer Zeit, als wir nach der Zerstörung der Zigeunersonne, des Sterns der Roma, zur Erde zogen, dort unsere erste Niederlassung. Später gaben sich die Griechen ziemlich große Mühe, die Stadt als eine ihrer Gründungen zu beanspruchen, aber man weiß ja, wie die Griechen sind: ein zweifelhafter Haufen, zur Hälfte Ignoranten, zur andern Hälfte Lügner. Atlantis gehörte uns. Erst fünftausend Jahre nach seiner Zerstörung gelang es den Gaje, etwas annähernd Vergleichbares an architektonischer Pracht zu bauen; das wurde die erste Große Stadt der Erdlinge. Und ich meine nicht etwa nur prachtvolle Gebäude und Marmorkolonnaden. Wir verfügten über Kanalisation und Toiletten mit Wasserspülung, während die übrige Erdbevölkerung sich noch in Tierhäute kleidete und mit Wurfstöcken jagte.
Eine gewaltige, eine Große Stadt, o ja! Zu schön, um Bestand haben zu dürfen. Wie dem auch immer, es war uns nie vom Schicksal bestimmt, ein sesshaftes Volk zu sein. Darum war es vielleicht sträflicher Übermut und Arroganz, dass wir etwas so Wundervolles erbauten wie Atlantis. Das musste uns ja fortgenommen werden. Der Vulkan brüllte, die Erde warf sich, das Meer verschlang Atlantis, und wir – armselige, niedergeschmetterte Überlebende – zogen in Schiffen davon, um unser Glück auf den Straßen der Welt zu suchen. (Von daher stammte die nur zu bekannte Abneigung der Zigeuner gegen Seereisen, müsst ihr wissen, denn die Leiden, die wir auf der Flucht erdulden mussten, waren entsetzlich.) Aber Atlantis war ein Wunder, solange es bestand, und die unter uns, die das Geheimnis der Geistreisen kennen, kehren oft dorthin zurück und bestaunen ehrfürchtig ›die Stadt‹. Es kostet einige Mühe, bis dorthin zu gelangen: Atlantis liegt nämlich, wie wir schon vor langer Zeit herausfinden mussten,
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