Zitadelle des Wächters
wir es nicht für heute nacht genug sein? Raim kann den Sucher justieren, und wir errichten unser Nachtlager, so mit vorzüglichem Nachtmahl und allem, was dazugehört. Wir werden eine ganze Weile hier drinnen beschäftigt sein.“
Alle stimmten zu. Langsam kam das Fahrzeug unter dem Schatten einer großen Maschine zum Stehen. Früher einmal war diese auf großen Stachelrädern gelaufen, jetzt aber waren nur noch Nadeln aus Eisenoxid übriggeblieben.
Der Himmel war dunkel und wolkenlos, als Varian mit Tessa im näheren Umfeld des Lagers spazierenging. Die Sterne standen hell und kalt am Himmel, und die lyrischen Töne von Raims flötenreicher Arthis woben sich gewandt in die Nachtstille ein. Tessa hielt fest seine Hand, und er bemerkte, daß sie kurz vor der Schwelle zum Zittern stand.
„Ist dir kalt?“
„Nein, das ist es nicht.“
„Tessa, hast du Angst vor mir?“ Seine Stimme klang ruhig und sachlich. „Ist das der Grund? Oder liegt es an diesem Ort? Oder an dieser Arbeit, die wir hier tun?“
„Vielleicht ist es all das zusammen … ich weiß es nicht, Varian. Ich habe viel nachgedacht – irgend etwas stimmt hier nicht. Zunächst habe ich geglaubt, ein ganz neues Leben würde mich erwarten, seit ich dich getroffen habe … seit du mich gerettet hast …“
„Also liegt es nicht …?“ Manchmal beschlich Varian das Gefühl, daß alle Frauen das gleiche besondere Wesen hatten, ein Wesen, das Männern für immer ein Geheimnis bleiben würde.
„Nein, warte, hör mich erst an. Du weißt, welches Leben ich hinter mir habe. Bislang hatte ich nie irgendeinen Einfluß darauf. Niemals! Zuerst mein Vater, dann die Männer, die mich verkauft haben … Ich hatte ja nie auch nur die Gelegenheit, daran zu denken, mein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Mir blieb nie die Zeit, mir darüber klarzuwerden, was ich eigentlich wollte. Bis auf eines: Ich wußte, daß ich nie mit einem Mann zusammen sein wollte, solange ich lebte.“
„Das kann ich gut verstehen“, sagte er. „Du hast mir einmal gesagt …“
„Laß mich erst ausreden.“ Sie gestikulierte mit der Hand über die Ruinen, die die beiden umgaben. „Ich komme mir hier wie eine Gefangene vor. Ich fühle mich total beklemmt, und ich wundere mich, daß du und die beiden anderen Männer dieses Gefühl nicht habt. Diese Beklemmung hängt über uns, als hätte sie eine reale Existenz.
Ich spüre sie, Varian, und sie läßt mich daran denken, was mir bis jetzt in meinem Leben alles widerfahren ist.“ Sie hielt inne, um sich die Augen zu reiben. Langsam schüttelte sie den Kopf.
„Erzähl weiter …“ Er berührte ihre Schulter, aber sie wich zurück.
„Es ist nur, daß … ich eine Menge Zeit hatte, über sehr viele Dinge nachzudenken, seit wir diese Reise begonnen haben. Und …“
„Und du bist zu dem Schluß gekommen, daß du nicht länger bei mir bleiben willst? Das geht doch in Ordnung, Tessa. Ich kann das gut verstehen. Und ich habe dir keine Bedingungen gestellt, als ich dein Leben rettete …“
Tessa lächelte. „Nein, nein. Das habe ich nicht gemeint. Ganz und gar nicht, Varian. Und daß du überhaupt davon gesprochen hast, beweist mir erneut, daß du ein guter Mann bist, ein Mann mit Charakter – und ich habe erst so wenige Menschen mit Charakter kennengelernt … Nein, das habe ich wirklich nicht gemeint.“
„Jetzt verwirrst du mich aber.“
„Es ist diese Suche“, sagte sie langsam und ohne ihn anzusehen. „Die kann noch Jahre andauern. Und bei dieser Vorstellung werde ich ganz krank, denn ich habe nicht vor, einen Großteil meiner neuen Freiheit an so etwas zu vergeuden …“
„Kannst du dir denn nicht vorstellen, was es für uns bedeuten würde, den Wächter zu finden?“
„Doch, ja, natürlich. Aber du hast mich noch immer nicht richtig
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