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Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)

Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition)

Titel: Zorn - Vom Lieben und Sterben: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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Tisch, er nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger und hob sie an. Sofort spürte er diese unheimliche, nahezu körperliche Abscheu, als hielte er eine Vogelspinne in der Hand. Und doch war da etwas anderes, etwas, das ihm seit letzter Nacht immer wieder durch den Kopf spukte.
    Was wäre geschehen, wenn er die Pistole auf dem Turm dabeigehabt hätte? Dann hätte er einen Warnschuss abgeben und den Priester in Schach halten können. Es war möglich, nein, es war sogar wahrscheinlich, dass Giese das Seil losgelassen hätte, vielleicht wäre er gar nicht erst dazu gekommen, Max den Strick um den Hals zu legen und ihn vom Turm zu stoßen.
    Beide, sowohl Max als auch der Priester hatten überlebt, doch das war pures Glück. Sie hätten jetzt tot sein können. Und er, Claudius Zorn, wäre schuld. Weil er zu feige war, eine Waffe zu tragen.
    Zorn machte sich selten Gedanken über Eventualitäten, doch dies waren Tatsachen. So sehr er sich auch mühte, er konnte sie einfach nicht ignorieren.
    Er öffnete die obere Schublade seines Schreibtischs. Dort, in der hintersten Ecke, lag ein ledernes Schulterholster. Obwohl er es seit über zwanzig Jahren besaß, war es so gut wie neu – er hatte es noch nie benutzt.
    Na ja, brummte Zorn, ich könnte es zumindest mal versuchen, oder?
    Gedacht, getan: Es brauchte nur ein paar Handgriffe, und er hatte das Holster mit der Pistole um die Schultern geschnallt. Schließlich stand er im Büro, drückte die Schultern nach unten und lief probeweise ein paar Schritte auf und ab. Nein, das war kein gutes Gefühl, schlimmer noch, es war beschissen. Das Leder rieb im Nacken, unter der Achsel spürte er einen unangenehmen Druck, der linke Arm wurde in einem unnatürlichen Winkel nach außen gebogen. Die Waffe war nicht geladen, trotzdem fürchtete er, sie könne jeden Moment losgehen.
    Was bin ich? Ein bekloppter Aushilfsrambo?, dachte Zorn und schnupperte. Etwas roch anders, und es war gar nicht mal unangenehm: Altes Leder, ein Duft, der ihn an seine Kindheit erinnerte. Sein Schulranzen hatte so gerochen, die kurze Lederhose mit den weißen Hirschhornknöpfen fiel ihm ein. Er hatte die Hose gehasst, trotzdem, die Erinnerung hatte etwas Tröstliches. Als kleiner Junge hätte er wahrscheinlich seine Seele dafür gegeben, die Sig Sauer auch nur kurz in den Händen halten zu dürfen.
    An der Wand neben dem Fenster stand sein Spind, ein länglicher Schrank, in dem er im Winter seine Jacke aufbewahrte. Er öffnete die Tür, an der Innenseite hing ein hoher, schmaler Spiegel.
    Langsam, wie im Western, trat er ein paar Schritte zurück, hielt die Arme seitlich gespreizt und schob sich einen imaginären Cowboyhut aus der Stirn.
    »Redest du mit mir?«, fragte er sein Spiegelbild.
    Zorn mochte Robert de Niro. Und Taxi Driver , das war einer seiner Lieblingsfilme.
    »Du laberst mich an? Mich? «
    Er stand mit dem Rücken zur Tür, kniff die Augen zusammen und versuchte, einen besonders gefährlichen Blick aufzusetzen. Dazu wippte er auf den Zehenspitzen vor und zurück. Er sprach leise, mit hoher, knarrender Stimme. Wie de Niro eben (glaubte er zumindest).
    »Mit wem kannst du Arsch in diesem Ton reden, hä?«
    Im Film zückte de Niro an dieser Stelle seine Waffe und tat, als würde er sein Spiegelbild erschießen. Zorn versuchte es ebenso, stieß den ausgestreckten nackten Zeigefinger nach vorn und ahmte das Geräusch eines Schusses nach.
    »Peng, peng, peng!«
    Er verschränkte die Arme vor der Brust und setzte ein dämonisches Grinsen auf.
    »Das hast du nun davon, du widerliche, ekelhafte Sau.«
    »Ratte, Chef.«
    »Was?!«
    Zu Tode erschrocken fuhr Zorn herum, Schröder stand in der Tür und musterte ihn interessiert.
    »Ich korrigiere dich ungern, aber de Niro sagt nicht Sau , sondern Ratte .«
    »Kannst du nicht klopfen, verdammt nochmal? Und überhaupt, wie lange stehst du da schon rum?«
    »Ach, höchstens ein paar Minuten. Sehr eindrucksvolle Vorstellung, du solltest die Pistole öfter tragen, Chef.«
    Na klasse, er hat mir die ganze Zeit zugesehen, überlegte Zorn. Ich hab mich geirrt, als ich vorhin dachte, dass es heute nicht mehr peinlicher werden könnte. O Gott, die nasse Hose sieht er auch, wahrscheinlich denkt er, ich hätte eingepinkelt!
    »Ich hab ein bisschen trainiert«, meinte er und schlenderte betont lässig hinter seinen Schreibtisch, wobei er sorgfältig darauf achtete, dass Schröders Blick nicht auf seinen nassen Hintern fiel.
    »Was gibt’s?«, fragte er und nahm

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