Zur Liebe verurteilt
letzten Tagen hatte sie ihren ganzen Energievorrat verbraucht, und es war ihr fast unmöglich, sich noch länger zu beherrschen. Im Schlafzimmer des Sonderwagens, den irgendein hoffnungslos vernarrter Verehrer Rowena zur Verfügung gestellt hatte, saß sie am Tisch einem Fremden gegenüber, der jetzt ihr Mann war.
Vor einem Monat hatte sie den Plan einer Scheinheirat mit einem Revolverschwinger ausgeheckt. Damals war er ihr glänzend erschienen. Endlich würde sie einmal alle Welt vor den Kopf stoßen. Sie würde ihre Schwester schockieren, die glaubte, sie in- und auswendig zu kennen. Sie würde ganz Latham schockieren, wo man sie bisher als alte Jungfer verlacht hatte. Beinahe wünschte sie sogar, ihr Vater wäre noch am Leben, dann hätte sie auch ihm einen Schock versetzen können. Aber es stand zu bezweifeln, daß Charles Latham durch irgend etwas zu schockieren gewesen wäre. Er wäre nicht mal schockiert gewesen, wenn Dorie ihm gesagt hätte, sie wolle eine Raupe heiraten. Er hätte nur nein gesagt. Oder wenn der Präsident der Vereinigten Staaten Dorie zur Frau verlangt hätte, ihr Vater hätte auch dann einfach nein gesagt. Diese Dummheit, so pflegte er zu sprechen, habe er der einen Tochter gestattet, aber der anderen würde er sie nie durchgehen lassen.
So war Dorie mit einem kalten Alleinherrscher statt eines Vaters aufgewachsen. Mit einem Mann, der in seinem Haus und draußen in seiner Stadt keine andere Meinung gelten ließ als die eigene. Das einzige auf der Welt, das ihn milder stimmen konnte, war Rowenas Schönheit.
Charles Latham hatte eine sehr schöne Frau geheiratet und ihr gleich von Anfang an mit den schwersten Strafen gedroht, falls sie ihm je untreu werden würde. Rowena bezweifelte das zwar, aber Rowena hatte ja in einer Welt voller romantischer Wachträume gelebt. Dorie dagegen mutmaßte, daß ihre Mutter nach der Geburt der zweiten Tochter den Tod buchstäblich herbeigewünscht hatte. Ihr Mann hatte ihr bestimmt ausführlich erklärt, wie enttäuscht er sei, daß sie ihm wieder nur eine Tochter und keinen Sohn geschenkt hatte, der seinen Namen weiterführen konnte. Und so war ihr der Lebensmut abhanden gekommen und sie war gestorben.
Ihre Mutter war nicht die einzige, die sich in allem Charles Lathams Willen hatte beugen müssen. So wußte Dorie nach dem Tod ihres despotischen Vaters überhaupt nicht, was sie mit der neugewonnenen Freiheit anfangen sollte. Bisher hatte ihr Vater immer bestimmt, wann sie zu Bett gehen, wann sie aufzustehen und was sie zu essen habe. Er hatte ihr Leben vollständig geplant und geregelt.
Immerhin war ihr klar, daß ihre isolierte Lebensweise, fast ausschließlich in Gesellschaft ihres Vaters, sie ein wenig... seltsam hatte werden lassen. Rowena hatte es nur ihrer unglaublichen Schönheit zu verdanken, daß sie ein normales Leben führen konnte. Wer so aussah wie Rowena, der brauchte gar nicht aus dem Haus zu gehen, um andere Menschen kennenzulernen - die Leute kamen zu ihr. Ihr Vater konnte noch so sehr dagegen sein, Rowena ließ sich den Verkehr mit anderen Leuten nicht verbieten. Bis Jonathan Westlake auftauchte und sie für immer mit sich nahm.
Aber niemand kam, um Dorie zu besuchen. Kein gutaussehender junger Mann wollte den Zorn ihres Vaters auf sich laden, indem er an die Haustür klopfte und sie zu sprechen wünschte. Der hätte ihn doch nur mit einer Standpauke abgewiesen. Und Dorie besaß ja nicht Rowenas Schönheit. Bei Rowena genügte ein Blick, und ihr Vater schmolz dahin.
Während also Rowena vor Jahren Latham verlassen und sich dem Einfluß ihres Vaters entzogen hatte, mußte Dorie bleiben. In diesem großen, düsteren Haus arbeitete sie als Haushälterin und Sekretärin ihres Vaters. Abends saß sie mit ihm in einem Zimmer. Doch niemals war es zu einem Gespräch oder einer freundschaftlichen Stimmung gekommen. Sie saßen nur stumm da. Er hatte ja gesagt, nachdem zwei Frauen ihn verlassen hätten, werde er es der dritten, verdammt noch mal, auf keinen Fall erlauben. So kam es, daß er Dorie nur ganz selten aus den Augen ließ.
Als er gestorben war, fiel es Dorie schwer, etwas anderes als Erleichterung zu empfinden. Mag sein, daß sie ihn geliebt hatte. Doch solchen »weichen« Gefühle wie Liebe hatte er in seinem Hause nicht gestattet. Charles Latham glaubte an strenge Disziplin in allen Dingen. Rowena hatte einmal die Vermutung geäußert, daß ihr Vater seine Frau wahrscheinlich nur zweimal im Leben geküßt habe - und das zu einer
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