Zwei Frauen: Roman (German Edition)
leise vor mich hin. »Lass mich!, bitte … es tut weh … bitte … bitte …«
Da sah er mich plötzlich an auf eine Art, die mich frieren ließ.
»Was ist?«, flüsterte ich.
»Geh weg!«
»Was?« Ich war so erschüttert, dass ich glaubte, mich verhört zu haben.
Die ganze Zeit über hatte ich das schließlich gewollt, aber er hatte es ja nicht zugelassen, ließ es auch jetzt noch nicht zu.
Trotzdem brüllte er mich an. »Geh weg, Eva! Geh weg!«
»Aber –«
»Hau ab!!!«
Er schrie so laut, dass es in meinen Ohren dröhnte, und dabei stieß er mich von sich, dass ich mit dem Kopf gegen den Flügel schlug. Die Beule war noch wochenlang zu sehen. Den Riss in meiner Seele spürte ich nicht einmal.
Ich sah noch, wie Nicholas endgültig zusammenbrach, dann stand ich auf und ging. Ich lief an jenem Abend noch stundenlang durch die Stadt und kam irgendwann bei Hilary an, deren Party gerade auf Hochtouren lief. Schon da konnte ich mich kaum noch an etwas erinnern. Ich empfand nur eine grenzenlose Erschöpfung und Angst vor diesen vielen Männern, die mich dort belagerten, und so flüchtete ich schließlich nach Hause zu Frau Gruber. Deren Strafpredigt erschien mir in dieser Nacht wie eine Gnade. Nachdem ich artig versprochen hatte, niemals wieder »so ein böses Mädchen« zu sein, legte ich mich ins Bett und schlief – wie immer. Als ich am nächsten Morgen erwachte, konnte ich mich an gar nichts mehr erinnern. Ich wusste zwar noch, dass da irgendetwas geschehen war, aber was das gewesen war, hatte ich vergessen. Nicholas blieb noch bis zum Ende der Spielzeit, dann verließ er das Theater. Ich hörte nie wieder von ihm, und vermutlich hätte ich auch nie wieder an ihn gedacht – wenn Karl-Heinz nicht gewesen wäre. Er, der Nicholas so ähnlich sah, er, der sich so sehr ähnlich verhielt, er zeigte mir den Riss in meiner Seele, und damit kam ich meinem eigenen Geheimnis auf die Spur, einem Geheimnis, dessen Offenbarung nicht nur mein ganzes Leben verändern sollte.
KAPITEL 22
Nach dem Zusammenbruch im Schwesternzimmer lag ich tagelang reglos in meinem Bett und starrte an die Zimmerdecke. Ich hörte zwar, wenn man mich ansprach, und ich verstand auch jedes Wort, aber ich war unfähig zu reagieren. Ich konnte nur daliegen und starren. Dermaßen schwach war ich trotz Chemotherapie und diverser Operationen bisher noch nie gewesen. Noch nie hatte es mich überanstrengt, die Hand von einer Stelle an eine andere zu legen oder auch nur den kleinen Finger zu bewegen. Noch nie hatte ich aus purer Kraftlosigkeit den Löffel nicht mehr halten können. Vor allem aber hatte mich noch niemals ein Zustand derart unberührt gelassen. Mir war diese Schwäche völlig gleichgültig.
Merkwürdigerweise regte sich auch sonst niemand darüber auf. Man gab mir Spritzen und Tabletten, man redete liebevoll auf mich ein und tätschelte meine Wangen, aber man zwang mich zu nichts. Nur ganz selten schaute Daniela mal herein und setzte sich für wenige Minuten mit demonstrativer Präsenz an mein Bett. Aber auch die stellte keine Fragen. Sie wusste wohl, dass das, was mich hatte erstarren lassen, viel zu schwer wiegend war, als dass man es mit ein paar lapidaren Sätzen hätte abhandeln können. Ich wusste das zumindest. Nach allem, was vorgefallen war, wusste ich, dass ich mich nicht länger sperren durfte. Ich musste mich »öffnen«, wenn ich eine Chance haben wollte, mit diesem meinem Leben fertig zu werden. So machte ich mich, nachdem es mir körperlich wieder etwas besser ging, eines Morgens ganz von allein auf den Weg zu Daniela.
Das war am 5. März 1977, einem Tag, der für mich ein ganz besonderer Tag war. Genau seit zwölf Monaten lag ich jetzt in diesen Mauern, hatte dreihundertfünfundsechzig Tage hier verbracht und ebenso viele Nächte und hatte trotzdem das Gefühl, als wäre es erst gestern gewesen, dass ich mit meiner Reisetasche in der Rechten und dem Kosmetikkoffer in der Linken durch das Gelände geirrt war.
»Ich will nicht, dass dieses Jahr ein verlorenes Jahr war«, sagte ich zu Daniela, »ich will …«
»Was, Eva?«
»Ich …«
Ich hätte mich ohrfeigen können. Noch vor fünf Minuten hatte ich ganz genau gewusst, was ich sagen wollte und wie ich es sagen wollte, doch jetzt brachte ich kein einziges Wort mehr hervor. »Du … du willst doch bestimmt mit mir reden …«, sagte ich nur.
»Willst du denn mit mir reden, Eva?«
Statt eine Antwort zu geben, setzte ich mich in die Sitzlandschaft und zündete mir
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