0098 - Ich und die Tote ohne Gesicht
sind? Ist das nicht unklug, Mr. Harker?«
»Wer spricht denn von im Stiche lassen? Dieses Büro bleibt bestehen. Wenn ich zweimal in der Woche nach hier fliege, läuft alles so weiter wie bisher.«
»Na schön«, sagte ich, »das gehört nicht zu dem was mich interessiert. Aber etwas anderes gehört dazu. Es handelt sich zwar um eine etwas prekäre Angelegenheit, doch liegt mir sehr viel daran, sie geklärt zu wissen.«
»Sprechen Sie sich ruhig aus, Mr. Cotton. Unsere Berufe sind ein wenig verwandt. Mir geht es oft so wie Ihnen jetzt.« Er versuchte zu lächeln. Nur gelang es nicht ganz.
»Gut also. Wie stehen Sie zu Miss Marr?«
»Ich habe diese Frage erwartet. Sie soll genau so offen beantwortet werden, wie die andere. Jana hatte nicht den geringsten Grund, auf Miss Marr eifersüchtig zu sein.«
Jetzt erst zog ich die Abschrift des Telegramms aus der Brieftasche und las es vor.
Der Mann fiel vornüber auf den Schreibtisch und weinte los wie ein Schlosshund. Eine solche Reaktion hatte ich nicht erwartet. Entweder saß der ehrlichste Anwalt oder der größte Schauspieler und lustigste Lügner aus sämtlichen Staaten vor mir.
Ich beruhigte ihn, und er fasste sich. Sprudelnd kam es über seine Lippen:
»Glauben Sie es mir, Mr. Cotton, was gestern in der Villa-Ferret und sonst noch geschah, warum Jana den Brief schrieb, was sie in dem Telegramm an Miss Marr meinte, außer dem Hinweis, Susan sollte mir die kalte Schulter zeigen - ich verstehe das alles nicht. Es entzieht sich einfach meiner Kenntnis. Das ist die reine Wahrheit.«
Ich war drauf und dran, ihm zu sagen, dass die Tote mit dem zerstörten Gesicht gar nicht seine Frau sei, verbiss mir die Bemerkung aber. Einen Trumpf spielt man erst zuletzt aus.
Die Sekretärin kam herein. »Mr. Harker, es wird Zeit. Der Wagen wartet. Die Maschine startet um 10.45 Uhr.«
»Noch eine Frage«, sagte ich, als das Mädchen wieder verschwunden war. »Ein gewisser Kid Stones ist in die Geschäfte des alten Marr eingestiegen. Sie wissen bestimmt, dass sowohl Red Marr, als auch Kid aus Frisco eine beachtenswerte Polizeiakte haben. Welcher Art Geschäfte betreibt die Firma Marr & Co neuerdings?«
»Import und Export. Völlig legal.«
»Vielleicht sind Sie von anderen Geschäften nicht unterrichtet?«
»Schwerlich. Das müsste ich wissen.« Er stand auf und machte eine bedauernde Handbewegung. »Leider muss ich unsere Unterhaltung abbrechen, Mr. Cotton. Am Dienstag bin ich wieder hier, dann stehe ich zu Ihrer Verfügung. Wie mir Major Westhanger sagte, ist mit einer Freigabe der irdischen Hülle meiner Frau bis dahin nicht zu rechnen. Ich wünsche ihnen von ganzem Herzen, dass es Ihnen gelingt, das geheimnisvolle Dunkel zu erhellen.«
»Bald hätte ich es vergessen«, sagte ich, mich erhebend und nach meinem Hut angelnd, »was mag wohl der Überfall Kid Stones zu bedeuten haben, als er vor Jahren ihre Villa in Middleville verlassen hatte?«
Er machte große Augen. »Davon ist mir nichts bekannt.«
»Okay«, sagte ich, »wenn Sie davon wirklich nichts wissen, dann können Sie natürlich auch nichts verraten.«
Diesmal hatte ich ihn bei einer Lüge ertappt. Undenkbar, dass Stones und Marr nicht mit ihrem Rechtsberater darüber gesprochen haben sollten.
Kurz nach 12 stoppte ich in der Nähe der Maar-Villa in Lyons Farms.Auf Alan Westhanger konnte ich mich verlassen. Wenn einer hätte Zurückbleiben wollen, wäre er von Alans Leuten geholt worden.
Ich pirschte mich an die Mauer. Oben war Glas einzementiert. Kein Problem für einen G-man. Ich zog mein Jackett aus und warf es auf die Mauer. Ein paar herumliegende Steine baute ich aufeinander und konnte auf diese Weise den First erreichen. Ein Klimmzug, linker Ellenbogen, rechter Ellenbogen, linkes Bein und ich saß auf meinem Jackett wie ein Reiter auf seinem Gaul.
Ich hatte mir eine günstige, durch Bäume gedeckte Stelle ausgesucht. Also sah mich keiner. Mit einer vorschriftsmäßigen Kniebeuge landete ich auf der anderen Seite und zog dass Jackett nach. Es zeigte nicht einen einzigen Schnitt.
Hinter dem Gebäude befanden sich die Garagen. Von deren Dach aus stieg ich in ein offenes Fenster. Es gehörte zu einer Besenkammer oder einem Abstellraum.
Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Erst 12 Uhr 10. Ich hatte also noch eine Menge Zeit. Die unteren Räume interessierten mich weniger. Auch nicht die des alten Gangsters Marr. Für so klug hielt ich ihn, dass er verfängliche Geschäftspapiere nicht einfach
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