010 - Skandal in Waverly Hall
zusammen, um nicht in Tränen auszubrechen. „Danke, Caldwell. Ich werde auf den Herzog warten."
Der Butler verzog keine Miene. „Natürlich, Mylady."
„Richten Sie ein Zimmer für Ihre Ladyschaft her", verlangte Belle. „Madam geht es nicht gut. Sie sollte sich lieber hinlegen."
„Möchten Sie, daß ich nach einem Arzt schicken?" fragte Caldwell besorgt.
„Ja", rief Belle und rang die Hände.
„Nein", antwortete Anne scharf. „Ich ... ich kann nicht... Ich werde nicht hier übernachten."
„Wohin sollen wir denn sonst gehen?" wandte Belle ein.
Anne wußte keine Antwort auf die Frage ihrer Zofe. Sie war so überstürzt von Waverly Hall geflohen, daß sie kein Geld mitgenommen hatte. Sicher genügte ein Schuldschein auf ihren Namen, um eine Zimmerflucht zu erhalten. Andererseits kannte sie sich in London nicht aus. Ihr fiel kein Hotel ein, wohin sie sich wenden konnte.
Bebend holte sie Luft. „Kennen Sie ein geeignetes Hotel für mich, Caldwell?" fragte sie.
Caldwell verlor einen Moment die Fassung. „Ich bitte um Vergebung, Mylady?"
„Ein Hotel", stieß Anne hervor.
Er erholte sich rasch. „Das Cavendish Hotel ist recht elegant, soviel ich weiß."
Anne nickte und blinzelte ihre Tränen wütend fort. Mit Weinen kam sie jetzt nicht weiter. Sie folgte dem Butler in den Salon, hatte aber keinen Blick für das kostbare vergoldete Mobiliar. Verzweifelt trat sie ans Fenster und blickte nach draußen, sah aber nichts.
Kurze Zeit später rollte Caldwell einen Servierwagen mit Tee und Gebäck herein.
Anne rührte sich nicht. Sie beachtete auch Belle nicht, die sie überreden wollte, sich hinzusetzen oder nach oben zu gehen und sich ein wenig auszuruhen. Unbeweglich stand sie am Fenster und hielt nach Rutherfords Karosse Ausschau. Endlich fuhr die Kutsche vor. Der weißlak-kierte Wagen mit seinen goldenen Verzierungen wurde von sechs Schimmeln gezogen und hielt vor dem Portal an. Der Duke of Rutherford stieg aus.
Anne drehte sich zur Tür, als der Herzog mit besorgter Miene eintrat und sie nachdenklich betrachtete. „Was ist passiert, Anne? Caldwell sagte, dir ginge es nicht gut."
Der Schmerz überwältigte Anne beinahe, und sie bekam keinen Ton heraus.
„Anne?"
„Ich dachte, Sie wären mein Freund", stieß sie endlich mit heiserer Stimme hervor.
„Ich bin dein Freund. Ich liebe dich wie eine eigene Tochter."
„Sagen Sie so etwas nicht!"
Rutherford sah sie verblüfft an. „Meine Güte, Anne, was ist geschehen? Was hast du?" Er kam nicht näher.
Anne rührte sich ebenfalls nicht. Tränen rannen ihre Wangen hinab.
„Was ist los, Anne? Wo ist Dominick?"
Anne ballte die Hände zu Fäusten. Sie stieß einen spitzen Schrei aus und begann, hemmungslos zu weinen. Endlich ging Rutherford zu ihr, legte die Arme um sie und zog sie an sich. Anne schluchzte und schluchzte, bis ihre Verzweiflung sich in heißen Zorn verwandelte.
„Dieser verdammte Dominick", krächzte sie und schlug mit beiden Fäusten auf die Brust des Herzogs ein.
Er sah sie erstaunt an.
„Dieser verdammte Dominick", rief sie erneut und trommelte unablässig weiter.
Rutherford hielt ihre Handgelenke fest. „Was ist passiert?" wollte er wissen.
Anne war viel zu wütend, um auf seine Frage einzugehen. Sie starrte den Herzog an.
Doch sie sah nur Dominick, der sie umschmeichelt, umworben und immer wieder geliebt hatte -und das einzig und allein mit dem Ziel, um Waverly Hall zurückzubekommen.
Endlich wurde ihr Blick wieder klar, und sie erkannte, daß nicht ihr Mann, sondern Rutherford vor ihr stand, der den abscheulichen Plan ausgeheckt hatte.
„Sie haben ebensoviel Schuld daran wie er!" rief sie erbost.
Rutherford ließ ihre Hände los und sah sie argwöhnisch an. „Was hast du erfahren?"
Anne strich mit der Faust über ihre Augen und keuchte immer noch. „Ich habe die Wahrheit erfahren."
„Verstehe."
„Das werde ich Ihnen nie verzeihen - und Dominick ebenfalls nicht."
Schweigend sahen sie sich an.
„Ich habe es für dich getan, Anne - ebenso wie für ihn."
„Nein", erklärte Anne verbittert. „Sie haben es für das Herzogtum getan. Und für sich selbst. Sie taten es, weil Sie sicher sein wollten, daß Dominick vor Ihrem Tod einen Erben zeugt. Das verzeihe ich Ihnen nie!"
Der Herzog richtete sich ein wenig auf. „Ich liebe dich, Anne, und ich liebe Dominick.
Ich möchte, daß ihr beide miteinander glücklich werdet."
„Glücklich? Dominick und ich?" Anne lachte hysterisch. „Das ist unmöglich
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