038 - Verbotene Sehnsucht
Wesen war einzig erfüllt von Trauer und Wut. Sam schlug zurück, zielte auf alles, was sich seinen Fäusten darbot. Er spürte Vales Wangenknochen unter seinen Knöcheln krachen, hörte das weiche, feuchte Schmatzen, als er ihm die Nase brach. Mit dem Rücken schlug er auf den Treppenabsatz. Vale landete auf ihm und war damit klar im Vorteil, was Sam indes herzlich wenig kümmerte. Er hatte alles verloren, und schuld daran war dieser Mann. Vales Zorn mochte berechtigt sein, doch Sams Zorn wurde von Verzweiflung genährt. Tiefer, wilder Verzweiflung. Sein Zorn war maßlos.
Und so raffte Sam sich wieder auf, tauchte durch Vales Schläge hindurch, spürte seine Fäuste im Gesicht, doch den Schmerz spürte er nicht mehr. Nichts konnte ihn jetzt noch aufhalten. Sein Zorn und das Bedürfnis zu töten beherrschten ihn. Er packte Vale und warf ihn zu Boden, dann schlug er auf ihn ein, hieb mit den Fäusten in sein Gesicht, und das Gefühl war unbeschreiblich erhebend. Er hörte Knochen knirschen, sah Blut spritzen, doch was kümmerte es ihn? Er spürte nichts.
Gar nichts.
Bis er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Er fuhr herum und erstarrte, seine blutige, geballte Faust nur eine Handbreit von Emelines Gesicht entfernt.
Sie zuckte zusammen, wich aber nicht zurück. „Nein", sagte sie. „Tu es nicht."
Er starrte sie an, diese Frau, die er leidenschaftlich geliebt hatte, diese Frau, der er seine Seele hingegeben hatte.
Diese Frau, die er noch immer liebte.
Ihr standen Tränen in den Augen. „Tu es nicht." Sie streckte ihre zarte weiße Hand nach ihm aus und schloss sie um seine geschundene, blutbefleckte Faust. „Tu es nicht."
Unter ihm regte Vale sich keuchend.
Als ihr Blick auf ihren Verlobten fiel, begannen die Tränen zu fließen. „Bitte, Samuel.Tu es nicht."
Wie aus weiter Ferne spürte er den Schmerz nahen, spürte ihn an Körper und Seele.
Er ließ seine Hand sinken und mühte sich schwerfällig auf. „Fahrt doch zur Hölle!", fluchte er.
Und damit stolperte er die restlichen Stufen hinab und hinaus in die kalte Nacht.
16. KAPITEL
Jene Nacht lag Eisenherz in Ketten in einem feuchten, kalten Kerker. Er wusste, dass er alles verloren hatte. Sein Sohn war verschwunden, seine Gemahlin verzweifelt, das Königreich wehrlos, und noch vor Tagesanbruch würde er hingerichtet werden.
Ein einziges Wort von seinen Lippen würde ihn freisprechen. Doch dieses eine Wort würde ihn wieder in einen armen Straßenkehrer verwandeln und Prinzessin Sonnentrost töten. Es kümmerte ihn wenig, was ihm geschah, aber der Gedanke, den Tod der Prinzessin zu bewirken, war ihm unerträglich. Denn in den sechs Jahren, die er nun schon verheiratet war, hatte sich etwas Wunderliches zugetragen: Er hatte sich in seine Frau verliebt...
Eisenherz
Als Rebecca am nächsten Morgen nach unten ging, jagte sie erst mal zwei Hausmädchen einen Schrecken ein. Die beiden standen in der Halle, hatten die Köpfe zusammengesteckt und tuschelten aufgeregt. Als sie Schritte auf der Treppe hörten, sprangen sie rasch auseinander und starrten zu ihr hinauf.
Rebecca reckte das Kinn und mühte sich um Contenance. „Guten Morgen."
„Miss." Die ältere der beiden hatte dich zuerst wieder gefasst und machte einen flüchtigen Knicks, ehe sie mit ihrer Freundin davoneilte.
Rebecca seufzte. Natürlich waren die Dienstboten wegen der Ereignisse des vergangenen Abends ganz außer sich. Als Sam blutüberströmt ins Haus gewankt war, hatte er den ganzen Haushalt aufgeweckt. Zwar hatte er sich verbeten, dass nach einem Arzt geschickt wurde, doch dieses eine Mal hatte Rebecca sich gegen den Willen ihres Bruders durchgesetzt. Das viele Blut und vor allem seine völlige Gleichgültigkeit hatten sie zu Tode erschreckt. Lord Vale hatte sie bislang nicht zu Gesicht bekommen, aber nach allem, was sie vom Arzt und den Dienstboten aufgeschnappt hatte, war es um ihn wohl noch schlimmer bestellt.
Rebecca wünschte sich nichts sehnlicher, als heimlich nach nebenan zu huschen und mit Lady Emeline zu reden, bei ihr zu sitzen und mit ihr zu fühlen. Lady Emeline schien immer ganz genau zu wissen, was in einer gegebenen Situation geboten war.
Sie würde alles wieder in Ordnung bringen können - immer vorausgesetzt, dass es hier überhaupt noch etwas in Ordnung zu bringen gab. Denn Rebecca fürchtete, vielleicht nie wieder mit Lady Emeline sprechen zu können. Sie bezweifelte, dass es eine Anstandsregel für ihre spezifische Situation gab. Was man zu einer
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