04 - Die Tote im Klosterbrunnen
Gemeinschaft.«
In der irischen Kirche hatten alle Gläubigen einen »Seelen-Freund«, dem sie ihre geistlichen Probleme und Verwirrungen anvertrauten. Darin unterschied sie sich von der Kirche Roms, wo die Gläubigen dazu angehalten wurden, ihre Sünden einem Priester zu beichten. In Irland war der anam-chara jedoch eher ein Vertrauter und geistiger Führer als jemand, der einfach nur Strafen für die Übertretung religiöser Vorschriften verhängte. Der stattliche Glaubensbruder lächelte freundlich, sein Händedruck war kräftig und sicher. Dennoch, gestand sich Fidelma ein, hatte der Mann etwas an sich, was ihr wenig vertrauenswürdig erschien. Etwas, was sie an die Schlafgemächer von Damen erinnerte und an Türgriffe, die sich kaum merklich drehten. Sie versuchte, den Gedanken abzuschütteln.
Olcán schien die Rolle des Gastgebers in Adnárs Festsaal übernommen zu haben und bedeutete Fidelma, neben ihm Platz zu nehmen, während sich Adnár und Bruder Febal ihnen gegenüber an den runden Tisch setzten. Sobald sie sich niedergelassen hatten, eilte ein junger Diener herbei, um ihnen Wein einzuschenken.
»Geht es Eurem Bruder Colgú gut?« fragte Olcán. »Wie kommt unser neuer König denn so zurecht?«
»Es ging ihm gut, als ich ihn zuletzt in Ros Ailithir sah«, erwiderte Fidelma vorsichtig. »Er kehrte nach Cashel zurück, kurz bevor ich abreiste.«
»Ah, Ros Ailithir!« Olcán warf ihr einen anerkennenden Blick zu. »Ganz Muman war entzückt von der Nachricht, daß Ihr dort den geheimnisvollen Mord an dem Ehrwürdigen Dacán aufklären konntet.«
Fidelma wurde vor Verlegenheit unruhig. Sie mochte es nicht, wenn man ihre Arbeit für etwas Außergewöhnliches hielt.
»Es ging lediglich darum, ein Rätsel zu lösen. Als Advokatin der Gerichtsbarkeit ist es meine Aufgabe, Geheimnisse aufzuklären und die Wahrheit zu erkennen. Wie dem auch sei, Ihr sagtet, ganz Muman war entzückt. Ich bezweifle, daß dies auch auf Euer Volk zutrifft, die Loígde? Salbach, Euer früherer Häuptling, ist nicht besonders gut dabei weggekommen.«
»Salbach war ein ehrgeiziger Narr.« Ob ihrer Entgegnung verzog Olcán mürrisch die Lippen. »Mein Vater Gulban hatte bei den Stammesversammlungen häufig Auseinandersetzungen mit ihm. Salbach war in diesem Land nicht gern gesehen.«
»Dennoch ist das Volk der Beara ein Stamm der Loígde«, betonte Fidelma.
»Zu allererst sind wir Gulban zur Untertanentreue verpflichtet, und er wiederum ist dem Häuptling treu ergeben, der in Cúan Dóir residiert. Wie dem auch sei, unser Häuptling heißt jetzt nicht mehr Salbach, sondern Brann Finn Mael Ochtraighe. Ich persönlich interessiere mich überhaupt nicht für Politik. Deshalb haben mein Vater und ich …«, er grinste, »uns entfremdet. Meiner Ansicht nach soll man das Leben genießen, und welch besseren Zeitvertreib gibt es als die Jagd …?« Er wollte schon weitersprechen, zögerte jedoch und sagte dann abschließend: »Ihr tatet wohl daran, unser Volk von einem ehrgeizigen Nichtskönner zu befreien.«
»Wie ich bereits sagte, ich habe lediglich meine Pflicht als Advokatin erfüllt.«
»Eine Aufgabe, für die nicht jeder das Geschick hat. Ihr habt Euch den Ruf erworben, äußerst beschlagen zu sein. Adnár erzählte mir, ein ähnliches Rätsel habe Euch auch hierhergeführt. Ist das wahr?«
Er reichte ihr einen Teller mit Fleisch, den sie dankend ablehnte; sie bediente sich lieber aus einer Schüssel mit Getreideflocken und Nüssen und nahm danach einen Apfel.
»So ist es«, mischte sich Adnár schnell ein.
Bruder Febal schien sich nicht für das Gespräch zu interessieren und konzentrierte sich mit gesenktem Kopf auf seine Mahlzeit.
»Ich bin auf Ersuchen von Äbtissin Draigen gekommen«, bestätigte Fidelma. »Sie bat Abt Broce, einen dálaigh in ihre Abtei zu entsenden.«
»Oh«, seufzte Olcán laut und studierte den letzten Schluck Wein in seinem Pokal, als fessle dieser seine ganze Aufmerksamkeit. Dann sah er Fidelma unverwandt an. »Ich habe gehört, die Äbtissin genießt hierzulande einen gewissen Ruf. Sie gilt nicht gerade als, wie soll ich mich ausdrücken, ›geistig hochstehend‹. Ist es nicht so, Bruder Febal?«
Febal hob jäh den Kopf, zögerte, ließ seine blauen Augen zu Fidelma wandern und sah sie einen Augenblick an, bevor er wieder auf seinen Teller hinunterstarrte.
»Es ist, wie Ihr sagt, mein Prinz. Es heißt, Äbtissin Draigen habe unnatürliche Neigungen.«
Fidelma beugte sich vor, und ihre Augen
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