04 - Mein ist die Rache
Wie kommt ein Callgirl eigentlich an Kunden? Durch Mundpropaganda?«
»Ich dachte, wir wären uns inzwischen alle darüber einig, daß sie gar keine Prostituierte ist.«
»Schon, aber weißt du, die Art, wie sie redet und wie sie aussah.«
»Auf ihr Aussehen sollten wir vielleicht nicht allzu viel geben«, bemerkte Lynley.
Er stand mit Helen vor dem offenen Schrank in der anderen Ecke des Zimmers. Er hatte die vier Hutschachteln vom obersten Bord heruntergeholt und hatte sie geöffnet. Jetzt beugte er sich über eine von ihnen und schlug das weiße Seidenpapier auseinander. Darunter zog er eine Perücke heraus. Langes schwarzes Haar, feine Stirnfransen. Er stülpte sie über seine Faust.
Deborah riß den Mund auf.
»Toll«, sagte Helen. »Diese Frau trägt tatsächlich Perücken? Dann ist wohl das wenige, was wir über sie wissen - und natürlich auch Deborahs Beschreibung von ihr -, völlig bedeutungslos. Falsche Fingernägel. Falsches Haar.«
Sie warf einen Blick zur Kommode. Plötzlich schien ihr ein Gedanke zu kommen. Sie ging hinüber, zog eine Schublade auf und kramte in der Unterwäsche. Sie hielt einen schwarzen Büstenhalter hoch. »Alles Attrappe.«
St. James nahm Lynley die Perücke aus der Hand und ging mit ihr zum Fenster. Er zog die Vorhänge auf und hielt sie ans Tageslicht. An der Beschaffenheit des Haares sah er, daß es Naturhaar war.
»Wußtest du, daß sie eine Perücke trug, Deb?« fragte Lynley.
»Keine Spur. Woran hätte ich das merken sollen?«
»Sie ist hervorragend gearbeitet«, bemerkte St. James.
»Man würde nie auf die Idee kommen, daß es eine Perücke ist.«
Er untersuchte sie eingehend, und als er mit dem Finger über das Innengewebe strich, blieb ein einzelnes, kürzeres Haar von der Trägerin hängen. Er löste es ganz heraus, hielt es ans Licht und reichte Lynley die Perücke zurück.
»Was ist, Simon?« fragte Helen.
Er antwortete nicht gleich. Wortlos betrachtete er das einzelne Haar zwischen seinen Fingern, während er sich klarmachte, was es zu bedeuten hatte. Es gab nur eine Erklärung, die einen Sinn ergab, nur eine Erklärung für Tina Cogins Verschwinden. Dennoch nahm er sich die Zeit, seine Theorie zu überprüfen.
»Hast du diese Perücke einmal getragen, Deborah?«
»Ich? Aber nein. Wie kommst du denn darauf?«
Am Schreibtisch nahm er ein Blatt weißes Papier aus der Schublade. Darauf legte er das Haar und trug beides wieder ans Licht.
»Dieses Haar«, sagte er, »ist rot.«
Er sah, wie Deborahs Verwunderung in Begreifen umschlug.
»Ist es möglich?« fragte er sie, da sie als einzige beide gesehen hatte und somit auch die einzige war, die seinen Verdacht vielleicht bestätigen konnte.
»Ach, Simon, frag mich nicht. Ich weiß es nicht. Wirklich, ich kann es nicht sagen.«
»Aber du hast sie gesehen. Du hast mit ihr gesprochen. Sie hat dir das Getränk gebracht.« »Das Getränk!« rief Deborah und rannte aus dem Zimmer. Gleich darauf hörten die anderen, wie die Tür zu ihrer Wohnung ging.
»Was soll das?« fragte Helen. »Du glaubst doch wohl nicht, daß Deborah mit alledem etwas zu tun hat. Die Frau lebt hier offensichtlich incognito - oder genauer, incognita. Das ist alles. Sie will nicht erkannt werden.«
St. James legte das Blatt Papier mit dem Haar auf den Schreibtisch. Incognita, dachte er. Incognita. Wenn das nicht ein Witz war!
»Nicht zu glauben!« sagte er. »Sie hat es jedem erzählt, der ihr begegnete. Tina Cogin. Der Name ist ein Anagramm, Leute.«
Deborah stürzte atemlos wieder ins Zimmer, in der einen Hand die Fotografie, die sie aus Cornwall mitgenommen hatte, in der anderen eine kleine Karte. Sie reichte beides St. James. »Dreh es um«, sagte sie.
Er wußte schon, daß die Handschriften übereinstimmen würden.
»Das ist die Karte, die sie mir gegeben hat, Simon. Das Rezept für das Getränk. Und hinten auf dem Foto von Mick ...«
Lynley trat zu ihnen, ließ sich von St. James Karte und Foto geben. »Das gibt's doch nicht«, sagte er.
»Was habt ihr denn nur?« fragte Helen ungeduldig.
»Den Grund, warum Harry Cambrey sich solche Mühe gegeben hat, seinen Sohn als richtigen Mann zu propagieren«, sagte St. James.
Deborah goß kochendes Wasser in die Teekanne und trug sie zu dem kleinen Tisch, den sie von der Küche ins Zimmer gerückt hatten. Deborah und Lynley setzten sich auf das Sofa, Helen und St. James auf zwei Stühle aus der Küche. St. James nahm das Sparbuch zur Hand, das bei den anderen Dingen lag, die
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