0456 - Shao - Phantom aus dem Jenseits
den Beinen gerissen hätten.
»Ich möchte dich einladen, John Sinclair…«
Der Dompteur hatte gesprochen, aber die Stimme gehörte einem Mann, den ich erst kürzlich als Toten in den Armen gehalten hatte.
Suko!
***
Obwohl ich mich nicht in einem Karussell befand, hatte ich den Eindruck, die ganze Gegend würde sich um mich drehen und alles mitnehmen, was sich in der Nähe befand.
Ich wischte über mein Gesicht, über die geschlossenen Augen und öffnete sie erst wieder, weil ich glaubte, dass dieser Spuk verschwunden war.
Er stand weiterhin vor mir.
»Suko?« fragte ich.
»Rede nicht, John«, hörte ich den Dompteur/Suko sprechen. »Rede bitte nicht mehr. Hör zu…«
»Okay!« keuchte ich.
»Ich will, dass du in der nächsten Nacht den Ort besuchst, wo ich die Totenfeier für Shao zelebriert habe. Sei noch vor Mitternacht dort und warte bitte ab.«
Natürlich kannte ich die Gegend, fragte aber sicherheitshalber nach.
»Auf den Hügel?«
»So ist es.«
Ich nickte heftig. »Okay, Suko, ich komme. Klar, mein Freund, ich werde da sein. Ich tue alles, was du willst. Nur verrate mir, was ich da soll.«
»Kommen…«
Mehr sagte er nicht. Auch mir blieb die nächste Frage auf den Lippen hängen, denn der Ausdruck in den Augen des Dompteurs veränderte sich abermals. Einen Herzschlag später blickte er wieder so, wie ich es von ihm gewohnt war.
Er blinzelte, als wollte er nicht glauben, dass ich frei vor ihm stand, Er schaute auf seine rechte Hand, er vermisste die Peitsche und stieß einen Laut aus, der eines Raubtiers würdig gewesen wäre. Er schien sich zu erinnern, was er eigentlich mit mir vorgehabt hatte, und konnte nicht begreifen, dass sich das Blatt zu seinen Ungunsten gewendet hatte.
»Wenn Sie Ihre Peitsche suchen«, sagte ich. »Die haben Sie freiwillig weggeworfen.«
»Nein!«
»Doch!«
Er sprang mich plötzlich an. Dabei glich er selbst einer Katze, so gewandt war er. Seine Fäuste waren kräftig, und er wollte sie mir ins Gesicht und in den Magen rammen.
Ich blockte ab, drehte mich und rammte meine Schulter vor. Der Dompteur wurde getroffen und kippte zu Boden. Wie ein Springball war er wieder oben.
Aber nur, um in meinen Handkantenschlag hineinzuschnellen, der ihn sicher erwischte, so dass er zu Boden fiel, liegenblieb und sich für die nächste Zeit verabschiedete.
Himmel, das war knapp gewesen! Mein Leben hatte wirklich auf der Kippe gestanden, und wer hatte es mir gerettet?
Suko!
Ich dachte darüber nach und konnte es nicht begreifen. Suko hatte durch den Mund des Dompteurs gesprochen. Hatte er eine Jenseitswanderung hinter sich? Irrte er durch andere Dimensionen und wurde zu verschiedenen Zielen geführt?
Ich hob die Schultern. Ein Zeichen meines Nichtverstehens, aber ich hatte Sukos Botschaft nicht vergessen. Er wollte mich in der nächsten Nacht dorthin haben, wo er seine Totenfeier für Shao zelebriert hatte.
Auf dem Hügel des alten Chinesenfriedhofs.
Ich sah zwar nicht klarer, allmählich aber verdichtete sich Verschiedenes zu einem zentralen Punkt. Für mich war es der Friedhof.
Einen letzten Blick warf ich noch auf den friedlich schlummernden Dompteur, dann ging ich dorthin, wo noch immer die Mitarbeiter des Zirkus vor dem großen Zelt zusammenstanden.
Der Direktor kam mir entgegen. »Mein Gott, Mr. Sinclair, die anderen sind schon alle verschwunden.«
»Ja, ich gehe jetzt auch.«
Gardener war nervös. »Ist etwas passiert?«
»Wieso?«
»Ich… ich meine nur.«
»Ja, es ist etwas geschehen. Sie können zurückgehen und einige Männer mitnehmen. Ihr Dompteur hat versucht, mich auszupeitschen. Das ist ihm leider nicht bekommen. Jetzt liegt er bewusstlos auf der Erde. Schaffen Sie ihn weg, sonst erkältet er sich noch.« Ich nickte Gardener zu und ließ ihn stehen.
Mein Wagen stand ziemlich verloren auf dem Parkplatz. Bevor ich abfuhr, blieb ich noch sitzen und sah mir meinen Hals im Innenspiegel an.
Es war genau zu erkennen, wo mich die Peitsche erwischt hatte. Da zeichneten runde Streifen die Haut. Sie sahen so aus, als hätten sie sich eingefressen.
»Glück gehabt, alter Tiger«, sagte ich zu mir selbst und startete…
***
Für Sheila Conolly war es schreckliche Stunden gewesen. Sie war zwar eingeschlafen, aber ständig hochgeschreckt, weil die Erinnerung sie immer wieder überkam.
Zunächst hatte sie sich einige Male eingeredet, einen Traum erlebt zu haben. Das stimmte nicht. Je mehr sie darüber nachdachte, umso stärker wurde ihr bewusst, dass sie
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