0560 - Der Rattenmensch
hatte.
Aber sie wußte Bescheid, und sie wollte vor allen Dingen nicht noch mehr Tote. Das Morden mußte einfach ein Ende haben.
Seufzend drehte sie sich um. Aus seiner Deckung schoß Satan, ihr Kater, hervor. Jaulend kam er auf seine Herrin zu und preßte sich gegen deren Beine.
Lorri streichelte ihn. »Ja«, flüsterte sie. »Ja, ich weiß, was du willst. Du willst mich warnen, weil du es auch spürst. Es ist etwas in der Luft. Das Grauen wird zurückkehren, ich weiß es, wir wissen es. Komm, Satan, komm ins Haus…«
Der Kater gehorchte. Er lief schon vor und wartete an der Tür, die Lorri mühevoll aufzog.
Im Kamin brannte das Feuer. In den letzten Tagen hatte sie unter großen Mühen Holz zusammengesucht. Mit zunehmendem Alter fiel ihr diese Arbeit immer schwerer. Wer es in den nächsten Jahren übernehmen sollte, daran dachte sie nicht, denn es konnte durchaus sein, daß sie diese Zeit nicht mehr erlebte.
Lorri wußte selbst nicht, wie alt sie war. Jedenfalls hatte sie viel in ihrem Leben erlebt.
Zwei Kriege, aber auch Höhen und schöne Tage. Das alles war nun vorbei. Sie lebte wie eine Einsiedlerin, von den meisten Menschen gemieden, von anderen nur widerwillig akzeptiert.
Lorri schloß die Tür. Ganz bekam sie den Eingang nicht zu, weil sich das Holz wieder einmal unter der kalten Witterung zu sehr verzogen hatte. So blieb sie einen kleinen Spalt offen. Satan hätte mit Mühe hindurchgepaßt.
Der Kater zog es vor, sich auf den Rand des alten, gemauerten Kamins zu legen, wo die Wärme des Feuers über sein Fell strich und ihm das Leben so angenehm wie möglich machte.
Die Zigeunerin dachte darüber nach, wie die folgende Nacht verlaufen würde.
Aus der Finsternis würde sich wie eine Insel das Blut der Unschuldigen hervorschälen. Der Rattenmensch fand immer seine Opfer.
Auch dann, wenn keine Touristen den Strand des in der Nähe liegenden Plattensees bevölkerten.
Lorri hatte die Felle ihrer Schlafstätte vor dem Kamin aufgeschichtet und die von der Decke hängende Petroleumlampe eingeschaltet.
Durch die offene Tür wehte der Wind, erfaßte auch die Lampe und ließ sie pendeln, so daß sie ihren Schein einmal nach rechts, dann wieder nach links warf. Die Schatten folgten stets. Lorri empfand sie als das Zeichen auf ein neues Unheil.
Zuerst hatte die alte Zigeunerin noch überlegt, ob sie es mit einer Beschwörung wagen sollte, davon aber Abstand genommen, weil sie davon ausging, daß es in dieser Nacht passierte.
Längst war es draußen finster geworden. Dicke Wolken trieben über den Himmel, als wären sie darauf gefaßt, etwas zu zerstören.
Sie verdeckten die Sterne, den Mond. Sie waren regenschwer und würden sicherlich das Wasser irgendwo abladen.
Das Land war groß, weit und steckte voller Geheimnisse, die vor langer Zeit mit hineingebracht worden waren. Von den verschiedenen Völkern, die sich Ungarn als Heimat ausgesucht hatten.
Die Zigeunerin wartete. Ihre dünnen, runenartigen Finger hatte sie übereinandergelegt und starrte aus glanzlosen Augen die Hände an.
Wie lange würden sie sich noch bewegen?
Sie konnte es nicht sagen. Vielleicht war diese Nacht bereits ihre letzte.
Der hinter ihr hockende Kater meldete sich plötzlich. Er gab einen Laut von sich, der die alte Frau alarmierte. Es war kein normales Miauen, eher ein Schrei, der auf eine gewisse Gefahr hinwies, und Lorri schrak zusammen.
Als sie den Kopf drehte, verließ Satan seinen Platz, blieb vor ihr stehen und machte einen Buckel. Sehr langsam drehte er seinen Kopf und schaute zur Tür hin.
Von dort witterte er die Gefahr…
Noch tat sich nichts, aber Satan setzte sich auf seinen Samtpfoten in Bewegung. Wenn er wollte, konnten sie zu gefährlichen Waffen werden.
Er schlich zur Tür…
Kurz davon blieb er stehen. Der Buckel bildete sich nicht zurück.
Er öffnete sein Maul. Diesmal drang kein Schnurren hervor, auch kein Schrei, dafür ein Fauchen.
Satan war gereizt!
Da hörte sie das Geräusch. Noch außerhalb des Hauses war es aufgeklungen. Ein hastiges Trappeln und Trampeln zahlreicher kleiner Füße auf dem Untergrund, dessen Schall durch den Spalt drang und in das alte Haus hineinwehte.
Unbeweglich saß die alte Zigeunerin auf ihren Fellen. Auch in ihrem Gesicht veränderte sich nichts. Sie hatte sich mit dem Geräusch abgefunden.
Sie wußte auch, wer da kam. Noch einmal versuchte sie, Satan zurückzurufen, er kam nicht.
Dafür erschienen die Ratten.
Sie wuchteten ihren Körper mit einer derartigen
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