0942 - Die blutige Lucy
Kameras, vorher war Pause. Niemand wollte gern beim Essen abgelichtet werden, verständlich.
Die Vorspeise wurde schon serviert. Die Reporter bekamen natürlich nichts, aber draußen gab es einen Bierstand, wo sich die Gäste später drängten. Würste wurden ebenfalls angeboten, und Sam Fisher verspürte schon jetzt Durst.
Der Stand war mittlerweile fertig. Man konnte auch ein erstes Bier trinken. Sandwiches wurden frisch belegt, und Sam griff sofort zu. Es war besser, wenn er jetzt etwas aß, als es später zu versuchen, wo alle hier standen.
Lucy Tarlington. Dieser Name spukte durch seinen Kopf. Er würde an sie herankommen müssen, nur wußte er nicht, wie er das anstellen sollte. Einen Plan konnte er nicht machen, er mußte warten, bis sich eine Gelegenheit ergab. Oft war es ja der Zufall, der einem Mann wie ihm immer wieder auf die Sprünge half.
Geduld haben.
Essen, das Bier trinken, die Türen zum Ballsaal unter Kontrolle haltend, die sich hin und wieder öffneten, wobei kein Gast den Saal verließ, sondern nur die Mitglieder des Personals.
Bis auf eine Ausnahme.
Sam Fisher war noch dabei, sich die Finger an der Serviette abzuwischen, als er Lucy Tarlington sah, die den Saal verlassen hatte. Hinter ihr schwang die Tür zu, und sie hob für einen Moment die Arme an, um mit den Händen durch ihre Haare zu fahren.
Keiner fotografierte, auch Sam nicht. Er hätte es getan, aber er war zu sehr mit seinem Essen beschäftigt gewesen. So mußte er auf eine andere Chance lauern.
Lucy Tarlington schlug den Weg zu den Toilettenräumen ein. Sie bewegte sich dabei normal, wie eben ein völlig normaler Gast, aber nicht wie eine Person, die schon seit mehr als hundert Jahren auf dieser Welt weilte, wenn Sams Annahmen stimmten.
Er verfolgte sie.
Nicht so, daß es unbedingt zu sehen war. Er schlenderte hinter ihr her wie jemand, der ebenfalls die Toilettenräume aufsuchen wollte und es dabei nicht eilig hatte.
Jetzt aber hielt er die Kamera fest.
An der Garderobe vorbei mußte er gehen, wo die Frauen zusammenstanden und sich unterhielten.
Rechts lagen die Türen zu den Damentoiletten, man konnte unter zwei Eingängen wählen, an der linken Seite die Zugänge zu den Gentlemen.
Spiegel waren auch vorhanden, aber es war zu spät für Sam Fisher. Er hatte nicht sehen können, ob sich Lucy Tarlingtons Gestalt in einem Spiegel abmalte. Hätte er sie nicht gesehen, obwohl sie an einem Spiegel vorbeigegangen war, dann wäre sein Verdacht zur Gewißheit geworden, es hier mit einem weiblichen Vampir zu tun gehabt zu haben, obwohl es so etwas eigentlich nicht geben konnte. Zudem lebten Vampire der Sage nach in alten Grüften und Gemäuern.
Er wartete und schlenderte nahe der Garderoben auf und ab. Immer den Blick auf die Türen der Damentoiletten gerichtet.
Sie würde kommen.
Er würde sie packen.
Die Kamera hielt er schußbereit. Das Licht würde ihn nicht stören, er würde sich sehr schnell zurückziehen, das stand fest. Natürlich hatte Sam Fisher schon bei anderen Festen die Gelegenheit gehabt, Fotos von Lucy zu schießen, nur hatte er sich da nicht getraut. Manche Menschen reagierten empfindlich, wenn man sie aufnahm, wenn sie ihre Einwilligung nicht gegeben hatten.
Sie kam.
Ahnungslos, lässig, die Pelzjacke über den Arm hängend.
Blitzartig drückte er auf den Auslöser. Sam wußte, daß der Motor den Film blitzartig weitertransportierte, so daß er innerhalb von Sekunden mehrere Bilder schießen konnte.
Das tat er auch hier.
Das Blitzlicht zuckte. Es irritierte die Garderobieren ebenso wie Lucy Tarlington.
Sie blieb stehen.
Alles lief in wenigen Sekunden ab. Und in dieser Zeit hatte der Reporter ein Erlebnis oder eine Ahnung, über die er so gut wie nicht hinwegkam.
Während er die Fotos schoß, da schien sich Lucy Tarlington vor ihm aufzulösen. Ihr Gesicht zerfloß, oder zerfloß nicht? Die Haut löste sich ab wie dicker Leim. Ein Knochenschädel erschien. Ein weit geöffnetes Maul, aus dem zwei Vampirzähne ragten, dann zerplatzte alles zu Asche und war im nächsten Moment vorbei.
Er ließ die Kamera sinken.
Vor ihm stand Lucy Tarlington. Sie sah so aus wie im Fahrstuhl. Es gab keinen Knochenschädel, keine Vampirzähne, auch keinen Staub, der zu Boden wölkte, alles war normal, bis auf eine kleine Änderung.
Lucy Tarlington lächelte jetzt. Es war kein normales Lächeln, das ins Leere lief, nein, es hatte schon ein Ziel, und dieses Ziel stand nur wenige Schritte vor ihr.
Sam Fisher, der seine
Weitere Kostenlose Bücher