1446 - Der Eis-Schamane
Dundee. Nur nicht mitten in der Stadt, sondern am westlichen Rand und weg vom Wasser. Hier waren die Grundstücke noch groß genug, dass sich die Nachbarn nicht gegenseitig störten.
Der Himmel hatte sich nicht verändert. Er lag nach wie vor wie eine Bleiplatte über uns.
Ich beobachtete ihn. Bestimmt wusste Maxine, wonach ich Ausschau hielt. Etwas später sprach sie mich darauf an.
»Rechnest du damit, dass Carlotta unterwegs ist?«
»Nicht nur sie.«
»Der Vogelmann?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, Max, dass es kein Zusammentreffen zwischen ihnen gegeben hat.«
Vor uns sah ich eine Kreuzung. Ich wusste, dass wir nach links mussten, dann gerieten wir in das Gebiet, in dem auch das Haus der Tierärztin stand, umgeben von einem recht großen Grundstück. Das Haus lag in einer Seitenstraße wie fast alle Bauten in dieser Umgebung.
»Jetzt haben wir es gleich hinter uns«, flüsterte Maxine und kurbelte das Steuer nach links.
Ich nickte nur und starrte weiterhin in den Himmel. Ich wusste, dass wir nicht mehr weit zu fahren hatten. Das Haus lag fast am Ende der Straße. Den Bereich darüber behielt ich im Blick – und hatte genau das Richtige getan, denn die beiden Wesen, die dort in der Luft schwebten waren alles andere als Vögel.
»Ich sehe sie«, sagte ich nur…
***
Eines stand für Carlotta fest. Es würde zwar zu einer Jagd kommen, aber sie wollte sich nicht zu weit vom Haus entfernen, um nicht andere Menschen auf sich und den Vogelmann aufmerksam zu machen.
Der Schamane war schnell. Die Kraft, die ihm von Mandragoro verliehen worden war, trieb ihn voran. Er hätte sie in Sekundenschnelle erreicht, wenn sie auf ihrem Platz verharrt hätte.
Aber das tat sie nicht.
Carlotta senkte den Kopf und kippte schwungvoll nach vorn, als sie bereits die Nähe des Verfolgern spürte. Sie huschte unter ihm weg, er jagte an ihr vorbei und begleitete die Aktion mit einem wütenden Schrei.
Er wusste jetzt Bescheid, dass sie nicht so leicht zu fangen war.
Carlotta würde es ihm so schwer wie möglich machen. Es wäre für sie auch kein Problem gewesen, länger in der Luft zu bleiben, Ausdauer besaß sie schon. Nur spielten hier die Witterungsverhältnisse nicht mit. Es war zu kalt. Hinzukam der Flugwind, und sie konnte sich ausrechnen, wann sie zu einem Eiszapfen gefroren war.
In einer eleganten Bewegung flog sie über das Hausdach hinweg auf die Rückseite. Dort ließ sie sich fallen. Dabei achtete sie darauf, nicht zu nahe an die große Scheibe des Wohnzimmers zu geraten.
Der Förster sollte ihr Geheimnis nicht sehen.
Sie landete weich. Mit dem Rücken streifte sie fast das Mauerwerk, als sie stehen blieb. Der Atem bildete Wolken vor ihren Lippen.
Noch war sie sich nicht sicher, ob ihr Manöver erfolgreich gewesen war. Sie musste davon ausgehen, dass er genau bemerkt hatte, wohin sie geflogen war, und jetzt erst mal abwartete.
Er musste nicht aus der Luft kommen. Er konnte sie auch vom Boden aus angreifen, und so schaute sie sich permanent um und horchte auch, so gut sie konnte.
Keine Gefahr?
Sie hörte zumindest nichts. Dabei wartete sie auf das Rauschen der Schwingen. Es würde das erste Zeichen sein, erst dann würde der verdammte Körper erscheinen.
Ein Irrtum.
Nichts hatte sie gehört. Aber er war da, und sie hätte ihn auch nicht bemerkt oder viel zu spät, wenn nicht etwas Schnee von der Dachkante herabgerieselt wäre.
Carlotta riss den Kopf hoch!
Da ließ sich der Schamane bereits fallen. Carlotta gelang ein Sprung zur Seite. So wurde sie nicht voll getroffen, sondern nur gestreift, was sie jedoch aus dem Gleichgewicht brachte. Sie geriet ins Taumeln und tat in ihrer Lage das einzig Richtige.
Sie bewegte ihre Flügel, um in den grauen Himmel zu steigen.
Doch das gelang ihr nicht, denn zwei Vogelklauen packten blitzschnell zu und erwischten ihre Knöchel.
Dazu hatte der Schamane nicht mal zu springen brauchen. Ein Rucken, ein zielsicheres Zupacken, das war’s.
Carlotta kämpfte mit heftigen Flügelschlägen gegen den mörderischen Griff an, aber sie hatte die Kraft der anderen Seite unterschätzt. Elias ließ sie nicht los. Sekundenlang stand der Kampf unentschieden, bis der Vogelmensch noch mehr Kraft einsetzte. Es gelang ihm, Carlotta zu Boden zu ziehen. Mit welcher Kraft sie sich dagegen zu wehren versuchte, war an ihrem verzerrten Gesicht abzulesen.
Bisher war sie immer die Stärkere gewesen. Sie war auch in der Lage, während des Flugs Menschen zu tragen. Das hatte sie bei mancher
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