1610 03 - Soehne der Zeit
er es nicht ertragen kann, ohne den anderen zu sein, und wenn dieser andere tot wäre … wäre es dann nicht richtig, ihm zu folgen?«
Der Priester, der mir bis dahin kaum aufgefallen war, antwortete: »Wenn Ihr beabsichtigen würdet zu sterben, Mademoiselle Arcadie, wärt Ihr in Paris geblieben, würdet weiter Hosen tragen und wärt irgendwann vom Rapier irgendeines Narren getötet worden … Habe ich nicht Recht?«
Das erschütterte mich. Ich kniete im Beichtstuhl und dachte darüber nach, wie seltsam es sich anfühlte, als Arcadie angesprochen zu werden. Und er hatte Recht. Natürlich hatte er Recht. Auch wenn ich keinen Mann kannte, der mich in einem Duell hätte besiegen können, es sei denn, ich wollte verlieren.
»Was soll ich denn sonst tun?«, flüsterte ich im Alter von sechsundvierzig.
Der Priester, der bei Tageslicht betrachtet wie ein hageres Bürschlein aussah, antwortete in den Schatten der Kirche:
»Ihr wart ein Mann. Warum probiert Ihr nicht einmal aus, wie es ist, eine Frau zu sein, Madame?«
Und als ich daraufhin benommen schwieg, fügte er hinzu:
»Warum nicht? Es gibt nichts, was Männer tun, das Ihr nicht getan hättet, außer ein Kind zu zeugen und Vater einer Dynastie zu werden, und das vermag noch nicht einmal Mademoiselle Dariole. Wenn Ihr beschließt, mit Eurer Trauer zu leben, könnt Ihr es genauso gut einmal ausprobieren. Vielleicht hält Gott ja noch einige Überraschungen für Euch bereit.«
Einige Zeit später heiratete ich und nahm meinen persönlichen Beichtvater mit ins Haus meines Mannes, wodurch ich den jungen Mann vor einem beunruhigenden Streit mit seinem Bischof bewahrte. Es ist wahr, dass ich ihm fortan mit einem gewissen Misstrauen begegnete. Ich bin es einfach nicht gewohnt, dass man auf diese Art mit mir redet. Nach einigem Nachdenken musste ich jedoch lächeln. Ich bin zu Messire Rochefort geworden, dachte ich. Auch er war es nicht gewohnt, dass man so mit ihm sprach, aber er hat es geliebt. Und er erkannte Weisheit, wenn er sie hörte.
Auch wenn ich keine Dynastie geschaffen habe, so bleiben die Rosenkreuzer als mein Monument, falls man solch ein steinernes Wort denn für solch eine formlose Organisation gebrauchen kann.
Kurze Zeit später überraschte mich der Zufall dann mit einer Schwangerschaft.
Jetzt tut es mir Leid, dass die junge Arcadie die einzige Möglichkeit war, meine Enkelkinder ins Leben zu rufen. Wäre Rochefort hier, er würde mir sagen, ich hätte es besser bei ihr machen sollen. Aber wir können keinen Einfluss darauf nehmen, wohin sich unser Herz wendet. Fehlt es an Zuneigung, können wir nur das Ehrenhafte tun.
Ich bin eine alte Frau, und es tut mir nicht Leid, dass ich so lange gelebt habe. Noch immer vermisse ich ihn jeden Tag. Daran kann ich nichts ändern. Ein spanisches Sprichwort sagt: Nimm, was du willst, und bezahl dafür.
Würde ich an Gott glauben und an ein Leben nach dem Tode wie der kleine Priester, so würde ich hoffen, dort wieder jung zu sein, mit guter Gesundheit und wachem Verstand und – eitel wie ich bin – mit meinem alten Können.
Manchmal gestatte ich mir die Vorstellung, dass dem so ist. Bisweilen sitze ich stundenlang am Fenster, das Gebetbuch auf dem Schoß, und blicke in den Garten hinaus, den ich gepflanzt habe. Es ist ein kleiner Garten im Stil der Jardins de Luxembourg. Stundenlang rede ich mir ein, dass es ein Leben nach dem Tode gibt, und dass ich Messire Rochefort dort im Garten wiedersehen werde. Während meine Kinder glauben, ich würde beten, starre ich aus dem Fenster und stelle mir vor, wie ich mich dort draußen dem Mann in fleischlicher Lust hingebe, den ich liebe.
Mein zweiter Gemahl war ein Mann, dem es gefiel, Mätressen zu haben und eine Frau, die ihn um der Fortpflanzung willen wollte und ihm ansonsten eine gute Freundin war. Ich mochte meinen Gemahl. Ich mochte auch meine Hunde. Seit Rochefort gegangen ist, hat kein Mann mich mehr aufgewühlt, abgesehen von dem geschlechtslosen Priester, der so viel jünger ist als ich.
Schelmisch stelle ich mir bisweilen vor, dass ich auch ihn aufwühle, dass sich manchmal unter seiner Soutane etwas rührt, wenn ich ihm von den fleischlichen Sünden der jungen Dariole zuflüstere. Ich bezweifele es aber. Alte Männer sind distinguiert. Alte Frauen sind ekelhaft. Ich zucke mit den Schultern. Hätte ich gewusst, dass ich so alt werden würde, ich hätte mich intensiver darum bemüht, jung zu sterben.
Ich bin alt. Selbst Monsieur Fludd ist inzwischen tot.
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