9 - Die Wiederkehr: Thriller
Sohn nicht in die Augen sehen zu müssen.
Leo wollte etwas sagen. Aber er wusste nicht, was.
»Wie du diese mexikanische Musik so toll finden kannst«, sagte Victoria.
Amador erwiderte nichts darauf. Er setzte die Kopfhörer wieder auf und schloss die Augen. Er dachte an María.
»Aber du bist ja immer noch im Schlafanzug«, sagte Victoria zu Leo. »In zehn Minuten fahren wir.«
Am See angekommen, sah Victoria die Kinder von der Trauerweide am Ufer ins Wasser springen. Die Kinder von Arenas hatten den See nie als künstlich empfunden.
»Los, geh zu ihnen«, sagte sie zu ihrem Sohn.
Leo fiel wieder ein, wie klebrig sich sein Gesicht angefühlt hatte. Er hatte seine Klassenkameraden seit der Coca-Cola-Sache am Schuljahresende nicht mehr gesehen. Mit dem Handtuch über der Schulter und dem Buch, das er letzte Nacht angefangen hatte, unter dem Arm, ging er los. Victoria spürte einen Stich in der Magengegend.
Leo legte sich bäuchlings unter einen Baum, das Körpergewicht auf die Ellbogen gestützt. Er mochte den weichen Handtuchstoff unter sich und diesen Geruch, eine Mischung aus Gras, Feuchtigkeit und Waschmittel. Letzteres ließ ihn an Linda denken. Mit der linken Hand öffnete er »Die kürzeste Geschichte der Zeit« an der Stelle, an der er letzte Nacht eingeschlafen war, und begann zu lesen.
Er las den ganzen Tag.
Bis er wegen des Dämmerlichts die Augen zusammenkneifen musste, um die Wörter auf dem Papier erkennen zu können. Er sah auf und stellte fest, dass der See praktisch menschenleer war. Es war Abend geworden. Er blinzelte, als erwachte er aus einem Traum. Fünfzehn Meter oder hundert Kilometer weiter lachte Victoria. Sie unterhielt sich mit Sandra, die neben ihr auf einem Handtuch saß. Später würde sie Amador erzählen, dass Sandra sich mitten in der Nacht den Bauch vollschlug und sich dann blaue Knie holte, wenn sie alles wieder erbrach.
Bei dem Gedanken, dass der Tag wie jeder andere zu Ende gehen würde, hätte Leo fast gelächelt. Die Briefe, die Anrufe und die Tränen dieser rothaarigen Frau würden also bald nicht mehr sein als Erinnerungen an einen scheinbar ewig langen Albtraum. Dies war nicht sein letzter Sommer, und ihm würde noch Zeit bleiben, diese Jahreszeit genießen zu lernen. Es würde noch weitere Sternschnuppenregen geben. Den letztes Jahr hatte er verpasst, weil seine Eltern ihn bestraft hatten, und den in diesem Jahr, vor zwei Tagen, wegen unerwartet vieler Wolken am Himmel. Wenn der vierzehnte August so endete wie jeder andere Tag auch, bekam Leo vielleicht doch noch einmal eine Sternschnuppe zu Gesicht. Seine Mutter und sein Vater würden sich darin bestätigt fühlen, dass er sich die Sache mit dem Open nur ausgedacht hätte. Und er würde auch nach den Sommerferien noch weiter zu Dr. Huertas gehen müssen. Aber das Misstrauen seiner Eltern und die lästigen Therapiebesuche konnte Leo gut verschmerzen, wenn dieser Tag so endete wie jeder andere Tag.
Und das würde er in Kürze.
Irgendwo hupte ein Auto. In seine Gedanken versunken, überhörte Leo es. Seine Mutter musste ihn auf das Geräusch aufmerksam machen, indem sie ihm das Haar zersauste.
»Hast du das denn gar nicht gehört?«, sagte sie. »Das ist dein Vater. Er ist schon da.«
»Papa?«
»Ja, Papa. Auf, zieh dich an.«
Victoria sah ihren Sohn an, der noch dasselbe anhatte wie vorhin, als sie angekommen waren. »Nimm das Handtuch, los.«
»Warum ist Papa denn gekommen?«, fragte er, ohne sich vom Fleck zu rühren.
Etwas in seiner Brust krampfte sich zusammen. Ihm fiel der seltsame Blick seines Vaters am Morgen wieder ein. Das gemeinsame Einverständnis zwischen seinen Eltern. Während er von unten, vom Handtuch aus, seine Mutter beobachtete, betete er, es mochte, bitte, nichts mit der einzigen Sache zu tun haben, die heute nicht geschehen durfte.
»Wir fahren zum Laden vom Amerikaner«, sagte Victoria.
Sie wandte den Blick nicht von ihrem Sohn ab.
»Heute?«, flüsterte er und das Wort blieb ihm in der Kehle stecken.
»Gerade heute.«
Als die Haut auf seiner Unterlippe dem Druck der Zähne nachgab, fühlte Leo einen metallischen Geschmack im Mund. Er spürte, dass ihm die Augen feucht geworden waren und die Nase gleich laufen würde. Und er sah seiner Mutter an, dass auch sie es registriert hatte. Obwohl sie sich nichts anmerken ließ.
»Dein Vater wartet.« Victoria wandte sich um und lief auf den Parkausgang zu. »So dumm, wegzulaufen, bist du ja nicht«, sagte sie dabei noch zu Leo.
Als sie
Weitere Kostenlose Bücher