Alasea 01 - Das Buch des Feuers
einer Schwachstelle. Es hatte immer noch so viele Waffen: eine krallenbewehrte Hand, zwei dolchscharfe Füße sowie einen Mund voller Reißzähne.
Und es war jetzt auf der Hut, überlegte, was es tat, statt unbedacht zu handeln. Es würde nicht noch einmal seine Beute unterschätzen.
Kral wusste, was er zu tun hatte: Er musste das Ungeheuer näher zu sich heranlocken.
Er holte tief Luft und wappnete sich für das Feuer, das ihn erwartete. Nachdem er sich auf diese Weise vorbereitet hatte, entließ er die Magik aus seinem Herzen. Er war nun kein Fels mehr. Stein schmolz wieder zu Fleisch. Der Schmerz, den sein gebrochenes Bein verursachte, pochte und brannte in seinem Blut wie Flammen in trockenem Buschwerk und drohte ihn zu zerreißen. Ihm wurde schwarz vor Augen, und er fiel in den Schlamm.
Er bemühte sich, bei Bewusstsein zu bleiben, aber der Schmerz war gegen ihn.
Durch den Nebel der Todesqual hörte er das Keckern des Skal’tums, das mit einem Satz auf seine verletzte Beute zusprang. »Deine Eingeweide werden mir schmecken, Wurm auss den Bergen«, zischte es.
Kral zwang sich, die Augen zu öffnen. Er lag auf der Seite und sah, wie das Ungeheuer nur einen Atemhauch von seiner Nase entfernt die Krallen in den Schlamm grub. Er drehte den Kopf gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie es ihm die Zähne in die Kehle schlagen wollte. Kral schenkte dem bohrenden Schmerz im Bein keine Beachtung und rollte sich herum, wobei er mit der Axt weit ausholte.
Er wusste, es gab nur eine einzige Gelegenheit. Er spürte den Biss seiner Axt - aber was war geschehen?
Als er innehielt, sah er, dass das Skal’tum eine Armlänge von ihm entfernt am Boden lag. Sein Kopf lag noch weiter entfernt.
Den Göttern sei Dank!
Kral rollte sich wieder auf ein Knie, doch jetzt bedurfte es seiner ganzen Kraft, die Dunkelheit zu vertreiben, die von ihm Besitz ergreifen wollte. Er sah, dass es Ni’lahn und Merik nicht besser ging. Die Nymphe lag zusammengekrümmt am Fuß eines Baumes, eine Hand zum Stamm der Ulme ausgestreckt. Die Äste des Baumes bewegten sich noch, doch sie boten wenig Sicherheit. Merik war auf die Knie gesunken, offensichtlich völlig am Ende seiner Kräfte. Kein Lichtschimmer umgab seine Gestalt.
Vor Krals Augen zupfte sich das überlebende Skal’tum die letzten Wurzeln von den Gliedmaßen und wischte die kleineren Äste beiseite. Es war frei. Und Elena befand sich immer noch in seiner Umklammerung. Sie kämpfte schwach dagegen an; Kral sah ihre Tränen.
Der trübe Blick, der ihr in die Augen trat, verriet Kral, dass sie von der gleichen Dunkelheit heimgesucht wurde, die ihn beinahe überwältigt hätte. Doch während Krals Dunkelheit wie Feuer brannte, würde ihr die Kühle des Entkommens zuteil werden.
Verliere dein Herz nicht! übermittelte er ihr lautlos mittels Willenskraft.
Kral hob die Axthand ein letztes Mal. Er konnte die Lichtung nicht überqueren und zu dem zweiten Skal’tum gelangen. Aber seine Axt konnte es!
Er hatte nur einen einzigen Wurf.
Während er mit dem Arm weit nach hinten ausholte, betete er, dass die Götter ihm diesen einen einzigen Wunsch erfüllen mochten. Er schloss die Augen, alle Muskeln im Rücken und in der Schulter strafften sich, und die Axt schoss nach vorn. Er öffnete die Augen; die Axt flog ihm aus der Hand.
Die Klinge trudelte in trägen Kreisen durch die Luft.
Das Schicksal des Mädchens lag jetzt außerhalb seines Einflussbereichs. Sein Herz wusste, dass seine Pflicht erfüllt war, und erlaubte der Schwärze, sich auszubreiten. Kral stöhnte laut auf, seine Sicht verschwamm, und er fiel ohnmächtig in den Schlamm.
Elena sah die Axt, die auf sie zuflog. Sie bemühte sich nicht, der Flugbahn auszuweichen. Sie schloss einfach nur die Augen. Sollte die Waffe doch treffen. Dann hätten die Schrecknisse wenigstens ein Ende.
Ein scharfer Windstoß wehte über sie hinweg. Die Klauen, die ihre Schultern umklammert hielten, strafften sich für einen Herzschlag, dann ließen sie von ihr ab. Erstaunt über die plötzliche Freiheit, brach sie in die Knie.
»Lauf, Elena!« rief Er’ril von der anderen Seite der Lichtung.
Es dauerte einige Herzschläge lang, bis ihr seine Worte ins Bewusstsein drangen. Sie drehte den Kopf, um zu sehen, was von ihrem Häscher übrig geblieben war: Er stand immer noch über ihr, doch der lange Hartholzschaft von Krals Axt ragte ihm wie ein dritter Arm aus der Brust. Die Klinge hatte sich tief in den Körper des Skal’tums eingegraben.
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