Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
etwas zuflüsterte und sie dann in den frühen Morgenhimmel warf. Lautlos verschwand Kralle über die Gartenmauer.
»Guten Morgen, Alissa.« Er lächelte zur Begrüßung.
»Morgen«, erwiderte sie zurückhaltend.
Nutzlos ließ sich ganz wie immer vor dem Feuer nieder und goss sich einen Becher dunklen Tee ein. Er seufzte zufrieden, als er tief den Dampf einsog. »Du kochst köstlichen Tee, junge Schülerin. Dafür bin ich gern bereit, einen halben Kontinent zu überqueren.« Er widmete sich ganz seinem Becher, verlor sich im duftenden Dampf und trank dann einen gemessenen Schluck.
Alissa rutschte unruhig herum. Dies war nicht Nutzlos, wie sie ihn kennen gelernt hatte. Er sprach schon die richtigen Worte, doch er wirkte abgelenkt, als wiederholte er eine Lektion und hörte selbst kaum richtig hin, was er eigentlich sagte. Offenbar merkte er erst jetzt, dass sie immer noch stand, denn er lächelte schwach. »Mach dir keine Gedanken um mich, Alissa. Ich habe nur eine besonders anstrengende Nacht hinter mir. Wie verläuft Strells Unterweisung?«
Abrupt setzte sie sich, bereit, seine seltsame Laune zu vergessen. »Diese Woche waren es wieder Felder. Interne, externe … Bailic hat nur Dinge wiederholt, die er schon durchgenommen hatte.«
»Er schreitet zu schnell voran.«
»Ich halte mit«, entgegnete sie und goss sich einen Becher Tee ein.
»Ja …«, sagte Nutzlos gedehnt. »Aber du hast ja auch einen richtigen Lehrmeister.«
Schulterzuckend trank sie einen Schluck und verzog das Gesicht, als sie sich die Zunge verbrannte. Das Schweigen wurde unbehaglich, während sie überlegte, wie sie ihre Bitte vorbringen sollte. Anscheinend war Nutzlos damit zufrieden, genüsslich ihren Tee zu trinken, und hatte noch nicht die Absicht, seine Ruhepause mit einer neuen Lektion zu beenden. »Ich habe eine Frage«, sagte sie schließlich.
Mit einem leisen Klirren stellte er seinen Becher auf die steinerne Bank. Er zog die Brauen hoch und widmete Alissa seine volle Aufmerksamkeit. Sie schlug verlegen die Augen nieder. Entschlossen, es hinter sich zu bringen, holte sie tief Luft. »Ich mache mir Sorgen um Strell«, sagte sie mutig und begegnete kurz Nutzlos’ Blick. »Seit Bailic ihm diese Prise Quellenstaub gegeben hat, treibt er Strell gnadenlos an. Bald wird Strell greifbare Ergebnisse vorweisen müssen. Er ist ein großartiger Schauspieler«, sagte Alissa flehentlich, »aber er kann nun einmal kein Feld erschaffen. Er kann nicht einmal die Quelle sehen, die Bailic ihm gegeben hat.«
»Kannst du es denn?«
»Ich … ich weiß es nicht. Ich habe es nie versucht.«
Nutzlos griff an ihr vorbei nach der Teekanne und schenkte sich nach. »Du solltest sie in deinen Gedanken sehen können, bis jemand anders sie in sich bindet. Es ist gut, zu wissen, dass du nicht gierig bist. Viele Bewahrer hätten sich die Chance, auch nur eine Prise ungebundener Quelle zu erhaschen, um keinen Preis entgehen lassen. In der Vergangenheit mussten schon einige Unglückliche ihr Leben deswegen lassen, weil ihre Mörder nicht erkannten, dass die Macht des Materials an ihr Opfer und allein an ihr Opfer gebunden war. Das ist einer der Gründe dafür, dass der Ursprung des Quellenstaubs so streng geheim gehalten wird. Ich muss gestehen, es überrascht mich, dass Bailic sich überwinden konnte, etwas davon fortzugeben.«
In Alissas Magen kribbelte es. Ihr eigener Quellenstaub hing noch immer verborgen um ihren Hals, ungebunden und offenbar alles andere als sicher. Nutzlos war zufrieden, die Dinge zu belassen, wie sie waren, und hielt es wohl noch nicht für nötig, ihr zu zeigen, wie sie die Quelle binden konnte. Alissa hatte nicht gewusst, dass dieser Staub so begehrenswert war. Unwillkürlich schob sich ihre Hand auf das kleine Säckchen und umklammerte es besitzergreifend. Bailic könnte mir das nicht wegnehmen, dachte sie.
Plötzlich erkannte sie, dass sie eine scheußliche Entscheidung treffen musste. Nutzlos um zwei Gefallen in einer einzigen Nacht zu bitten, kam gar nicht in Frage. Sie hatte sich während seines letzten Besuchs ausgiebig mit externen Feldern beschäftigt, doch Nutzlos hatte ihr ausdrücklich verboten, diese allein zu üben, vor allem in Bailics Gegenwart. Sie konnte ihn jetzt entweder um die Erlaubnis bitten, auch allein Felder manipulieren zu dürfen, um Strell zu decken, oder darum, dass er ihr sagte, wie sie ihre Quelle an sich binden konnte, um ihre jüngste, verzweifelte Angst um ihren Staub zu besänftigen. Die
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