anderbookz Short Story Compilation II
fest, daß sein Blick sich geklärt hatte.
Er fragte sich, wie lange er und Eddie schon auf dem Dachboden waren. Es konnten Stunden sein. Er konnte sich kaum daran erinnern, was vorgefallen war, bevor er die Hutnadel in Eddies Haut gebohrt hatte. Nun war die Verschwommenheit tatsächlich geistig, nicht sehbedingt. Ein lauter, unbehaglicher Puls pochte in seinen Schläfen. Wieder wischte er das Blut von Eddies Unterarm. Dann stand er mit wackeligen Knien auf und ging zu seinem Stuhl zurück.
»Wie fühlt sich dein Arm an, Eddie?«
»Taub«, sagte Eddie mit seiner erdigen, schläfrigen Stimme.
»Diese Taubheit verschwindet jetzt allmählich. Ganz, ganz langsam. Du fängst wieder an, deinen Arm zu spüren, und er fühlt sich sehr gut an. Du hast keine Schmerzen. Er fühlt sich an, als hätte den ganzen Nachmittag die Sonne darauf geschienen. Er ist stark und gesund. Das Gefühl kehrt in deinen Arm zurück, und du kannst die Finger und alles wieder bewegen.«
Als er aufhörte zu sprechen, lehnte Harry sich an den Stuhl zurück und schloß die Augen. Er rieb sich die Stirn mit der Hand und wischte die Feuchtigkeit an seinem Hemd ab.
»Wie fühlt sich dein Arm an?« fragte er, ohne die Augen zu öffnen.
»Gut.«
»Das ist großartig, Klein Eddie.« Harry preßte die Handflächen gegen sein erhitztes Gesicht, wischte sich die Wangen ab und öffnete die Augen.
Ich kann das jede Nacht tun, dachte er. Ich kann Klein Eddie jetzt jede einzelne Nacht hier heraufbringen, zumindest bis die Schule wieder anfängt.
»Eddie, du wirst mit jedem Tag stärker. Dies hilft dir wirklich eine Menge. Und je öfter wir es tun, desto stärker wirst du. Verstehst du mich?«
»Ich verstehe dich«, sagte Eddie.
»Heute nacht sind wir fast fertig. Ich möchte nur noch eines versuchen. Aber dafür mußt du wirklich ganz tief und fest schlafen, damit es funktioniert. Ich möchte daher, daß du tiefer und tiefer gehst, so tief du nur kannst. Entspanne dich, und jetzt schläfst du wirklich tief und fest, tief, tief, und du bist entspannt und bereit und fühlst dich großartig.«
Klein Eddie saß schlaff auf dem Stuhl, er hatte den Kopf zurückgelegt und die Augen geschlossen. Zwei winzige dunkle Blutströpfchen standen wie Moskitostiche an seinem rechten Unterarm hervor.
»Während ich mit dir spreche, Eddie, wirst du langsam jünger und jünger, du gehst in der Zeit zurück, das heißt, du bist jetzt nicht mehr neun Jahre alt, sondern acht, es ist letztes Jahr und du bist in der dritten Klasse, und jetzt bist du sieben, und jetzt bist du sechs Jahre alt ... und nun bist du fünf, Eddie, und es ist der Tag deines fünften Geburtstags. Heute wirst du fünf Jahre alt, Klein Eddie. Wie alt bist du?«
»Fünf.« Zu Harrys angenehmer Überraschung schien Klein Eddies Stimme tatsächlich jünger zu sein, und auch seine zusammengesunkene Haltung auf dem Stuhl wirkte jünger.
»Wie fühlst du dich?«
»Nicht gut. Ich hasse mein Geschenk. Es ist gräßlich. Paps hat es besorgt, und Mom hat gesagt, es hätte niemals ins Haus kommen dürfen, weil es nur Müll ist. Ich wünschte mir, ich müßte nie mehr Geburtstage haben, weil die so schrecklich sind. Ich werde weinen.«
Sein Gesicht verzerrte sich. Harry versuchte sich zu erinnern, was Eddie zu seinem fünften Geburtstag bekommen hatte, aber er konnte es nicht - er hatte lediglich eine unklare Erinnerung an Scham und Enttäuschung. »Was für ein Geschenk hast du, Eddie?«
Mit weinerlicher Stimme sagte Eddie: »Ein Radio. Aber es ist kaputt, und Mom sagt, es sieht aus, als käme es von der Müllhalde. Ich will es nicht mehr. Ich will es nicht einmal mehr sehen .«
Ja, dachte Harry: ja, ja, ja. Jetzt erinnerte er sich. An Klein Eddies fünftem Geburtstag hatte Edgar Beevers ein gelbes Plastikradio herbeigeschafft, das selbst in Harrys Augen unvorstellbar häßlich gewesen war. Die Skala war gesprungen, und hier und da trug es braune, kreisförmige Male, wo jemand seine Zigarette daran ausgedrückt hatte.
Das Radio war schon längst im Müllraum begraben worden, wo es heute unter mehreren geologischen Schichten von Abfall lag.
»Okay, Eddie, du kannst das Radio jetzt vergessen, weil du wieder rückwärts gehst, du wirst jünger, du gehst zurück und bist vier Jahre alt, und jetzt bist du drei.«
Er betrachtete Klein Eddie voller Interesse, dessen ganze Erscheinung sich verändert hatte. Anstatt unglücklich und den Tränen nahe zu sein, stellte Eddie nun eine selbstzufriedene Fröhlichkeit
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