Angst vor dem Blutbiss
Zimmerlinden, denn er war mit einem kurzärmeligen Hemd bekleidet und einer locker fallenden Sommerhose.
Auf eine Krawatte hatte er verzichtet.
Die Sekretärin bekam einen roten Kopf, als sie die Worte ihres Chefs hörte. »Mal endlich einer, der vor Ihnen keinen Kniefall macht, Sandra.«
»Ich meine…«
»Hören Sie auf. Kommen Sie, Mr. Sinclair! Ich freue mich auf die Unterhaltung.«
Bevor ich ging, zwinkerte ich Sandra zu, bei der die Röte unter der perfekten Schminke noch nicht gewichen war. Carrigan hielt mir die Tür auf und bat mich in sein Allerheiligstes, das ebenfalls klimatisiert war, und dabei mehr einer Bibliothek als einem Büro glich, in dem hart gearbeitet wurde.
Ich ließ mich in einem Ledersessel nieder. Kalte Getränke aus der Kühlbox standen vor mir. Ich bediente mich mit Bitter Lemon, und auch mein Gegenüber trank es.
Carrigan war ungefähr fünfzig, hatte blondes Haar und machte auf mich den Eindruck eines Selfmademan. Seine grauen Augen hatten sich der Farbe des Haars angeglichen oder umgekehrt. Sie wirkten forschend, aber nicht kalt oder unfreundlich.
Paul Carrigan!
Ein Name, der in bestimmten Kreisen Gewicht hatte, denn Carrigan war einer der besten Industrie-Anwälte, die der Großraum London zu bieten hatte. Wer ihn nicht kannte oder ihm nicht schon mal begegnet war, der hat etwas versäumt, so zumindest hieß es. Ich hatte es bisher versäumt und saß ihm nur gegenüber, weil ich von meinem Chef, Sir James, geschickt worden war.
Unser Gespräch begann locker, und Carrigan stellte beinahe bewundernd fest, daß ich also zu denjenigen gehörte, die für seinen Freund Sir James die Kastanien aus dem Feuer holten.
»Nicht unbedingt nur für ihn«, widersprach ich leicht. »Ich tue es auch für die Menschen.«
»Klar, das versteht sich.«
»Und jetzt sind Sie an der Reihe, wie ich mal denke.«
Er hob die Augenbrauen, seine Stirn erhielt dadurch ein anderes Aussehen, er beugte sich nach vorn und starrte zu Boden, wobei er die Hände faltete und nickte. »Ja, jetzt bin ich an der Reihe, und ich wundere mich, daß es zum erstenmal in meinem Leben ein Problem gibt, das ich nicht lösen kann.«
»Worum geht es?«
Er blickte mich wieder an. Ich sah ein Lächeln auf seinen Lippen, nur wirkte es nicht echt. »Das will ich Ihnen sagen.« Er schüttelte den Kopf.
»Nein, anders, ich will es nicht so locker sagen, weil Sie mich eventuell nicht ernst nehmen.«
»Bleiben Sie bei der ersten Alternative.« Ich wollte nicht, daß sich Carrigan drehte und wendete.
»Also gut. Es geht um einen Vampir!«
Ich erwiderte nichts. Er sah mir ins Gesicht und schien darauf zu warten, daß ich nun anfing zu lachen, das aber tat ich nicht. Ich blieb wie immer.
»Haben Sie verstanden, Mr. Sinclair?«
»Natürlich, Sie meinen einen Vampir.«
»Erschreckt Sie das denn nicht? Oder halten Sie mich für einen Spinner?«
»Nein, warum sollte ich? Sie haben sich an Sir James gewendet. Sie hätten wissen müssen, womit er sich beschäftigt und um was ich mich infolgedessen auch kümmern muß. Es geht um einen Vampir, haben Sie gesagt. Okay, ich nehme es zur Kenntnis.«
»Dann kann ich mehr erzählen?«
»Gern.«
»Auch wenn ich in der Geschichte um dreißig Jahre zurückgehe, denn zu der Zeit begann alles.«
»Sie können von mir aus dreihundert Jahre zurückgehen. Ich bin hier, um Ihnen zuzuhören. Das ist mein Job.«
»Ja«, murmelte er. »Es ist Ihr Job.« Er wischte über seine Stirn. »Kaum vorstellbar.«
»Bitte, Mr. Carrigan.«
»Drei Namen sollten Sie sich erst einmal merken. Meinen, den Sie ja schon kennen, hinzu kommen ein gewisser Claudio Melli und ein Herbert Lagemann. Und jetzt stellen Sie sich all diese Personen um dreißig Jahre jünger vor.«
»Gut, das mache ich.«
»Wir waren Schüler in einem exklusiven Schweizer Internat, hoch über dem Genfer See…«
In den folgender Minuten berichtete Carrigan, was ihm und seinen Freunden vor dreißig Jahren widerfahren war. Er konnte sich noch sehr gut an die Geschehnisse damals erinnern, denn er sparte nicht mit Einzelheiten, und ich hörte immer gespannter zu, was drei Schüler, die kurz vor dem Abitur oder der Matura standen, erlebt hatten.
Paul Carrigan endete mit einer Bemerkung, die gleichzeitig auch eine Frage war. »Und jetzt ist der Vampir tot, denke ich – oder?«
Er wartete auf meine Antwort. Sie kam nicht spontan, ich umging das Thema etwas. »Sie erzählten, daß er in eine Schlucht gestoßen wurde, über deren Grund ein
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