Anne Gracie
Sie klammerte sich an einen Strohhalm.
Es war ein
kleines Haus mit einem gepflegten Garten, der zu dieser Jahreszeit allerdings
kahl war. Die Türglocke aus Messing war auf Hochglanz poliert. Nell zog am
Glockenstrang und trat nervös von einem Bein aufs andere.
Eine
grauhaarige Frau mittleren Alters öffnete. „Ja, bitte?“
„Hat hier
jemand ein Baby ausgesetzt?“, platzte Nell ohne lange Vorrede heraus. „Vor
sieben Wochen, ein Baby in einem Korb?“
Die Frau
runzelte die Stirn. „Ist das schon sieben Wochen her? Mir kommt es noch gar
nicht so lange vor.“
Nell wurde
blass und begann zu schwanken. Sie packte die Arme der Frau. „Sie meinen, da
war tatsächlich ein Baby?“
Die Frau
nickte, sichtlich erschrocken über Nells heftige Reaktion. „Ein kleines
Mädchen, so ein armes winziges Ding.“
„Wo ist es
jetzt?“, fragte Nell atemlos.
Die Frau
zeigte in eine Richtung, und ohne hinzusehen verstand Harry.
„Wo? In
welchem Haus?“ Nell stand auf den Zehenspitzen und spähte eifrig zu ein
paar Häusern hinüber.
Harry nahm
ihren Arm. „Auf dem Friedhof, Nell“, sagte er leise.
Sie
runzelte verwirrt die Stirn und verstand nicht. „Auf dem Friedhof? Wer wohnt
denn auf einem Friedhof?“ Doch dann begriff sie. Mit einem gequälten
Aufschrei drehte sie sich zu der Frau um. „Nein! Das kann nicht sein! Sie lebt,
sagen Sie mir, dass sie lebt!“
Die Augen
der Frau füllten sich vor Mitgefühl mit Tränen. „Es tut mir so leid. Wissen
Sie, niemand wusste, dass sie hier war. Der Vikar war über Nacht in London und
ich bei meiner Schwester, daher hat niemand das arme kleine Ding weinen
hören.“
Nell
schluchzte erstickt auf.
„Es war
eine bitterkalte Nacht“, fuhr die Frau fort. „Bei dem Frost sind
meine letzten Blumen erfroren. Das Baby ebenfalls. Es war tot, als wir es
morgens fanden. Es sah aus wie ein kleiner erfrorener Engel in seinem mit
Satin gefütterten Körbchen.“
„Satingefüttert
...“ Nell fiel in Ohnmacht und Harry fing sie gerade noch auf. Er lehnte
alle Hilfsangebote der Frau ab und trug seine Verlobte zum Zweispänner. Sie war
schließlich nicht krank, sie hatte einfach ein gebrochenes Herz.
Sie weinte
fast auf dem ganzen Heimweg, es war kein normales Weinen, sondern ein
herzzerreißendes Schluchzen, das ihren ganzen Körper schüttelte.
Harry hielt
sie fest an sich gedrückt. Jedes Schluchzen war wie ein Stich in sein eigenes
Herz. Er wiegte sie sanft und hasste seine Hilflosigkeit. Und er war wütend. Er
wollte auf jemanden einschlagen.
Er würde
noch einmal zurückkommen und etwas wegen des Grabes unternehmen, doch im Moment
verspürte er nur Mordgelüste. Noch nie zuvor hatte er eine solche Wut
verspürt.
Mein ist
die Rache, spricht der Herr, hieß
es in der Bibel, aber Harry brannte darauf, selbst Rache zu nehmen für das, was
Nell angetan worden war. Er hatte niemanden, auf den er einschlagen konnte.
Noch nicht. Aber wenn er das Scheusal dann gefunden hatte, würde es ganz sicher
nicht bei Schlägen bleiben.
Doch bis
dahin musste er sich um die vollkommen verzweifelte Nell kümmern.
Er brachte
sie nach Hause, zog sie sanft bis aufs Unterhemd aus und legte sie ins Bett.
„Ich möchte bei dir bleiben“, sagte er und wartete ab. Er würde sich ihr
nicht aufzwingen.
„Bleib“,
flüsterte sie kaum hörbar.
Gott sei
Dank. Er hätte nicht gewusst, was er tun sollte, wenn sie lieber allein
geblieben wäre. Er zog sich rasch aus und legte sich zu ihr. Sie zitterte.
Sofort klammerte sie sich an ihn, als könnte sie ihm nicht nahe genug sein.
„Lass mich nicht allein“, murmelte sie.
Irgendetwas
zerbrach tief in seinem Innern. „Niemals“, versprach er heiser. In ihrem
Kummer hatte sie sich ihm zugewandt. Sie brauchte ihn. Er war vollkommen
nutzlos für sie, aber sie wollte ihn dennoch bei sich haben.
Lange
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