Anne Gracie
sehen. Eine
Sekunde lang hatte er gedacht – was für ein Narr er gewesen war! –, sie würde
zu ihm laufen, das Auspeitschen beenden und weinend rufen, dass sie ihn
liebte, dass alles ein Missverständnis gewesen wäre.
Doch sie
war schweigend stehen geblieben und hatte die Szene mit leuchtenden Augen und
einem Lächeln verfolgt, das er nie wieder vergessen würde ...
Schließlich
hatten sie ihn halb nackt und blutend auf der Treppe vor dem Stadthaus seines
Vaters in Mayfair abgeladen und die Fürklingel betätigt. Es war am helllichten
Tag gewesen und Passanten hatten ihn angestarrt, aber Harry hatte sich kaum
bewegen können.
Quenborough hatte verlangt, der Earl of Alverleigh sollte an die Tür kommen.
Es war das
erste und einzige Mal, dass Harry seinen Vater aus der Nähe sah. Er öffnete
mühsam ein zugeschwollenes Auge und starrte ihn an. Es war, als sähe er in
einen Spiegel, nur als dreißig Jahre älterer Mann. Sein Vater war sein und
Gabriels Ebenbild, nur mit härteren, strengeren Zügen.
Der Earl of
Alverleigh erschien auf der Treppe, flankiert von seinen beiden ältesten
Söhnen, Harrys Halbbrüdern Marcus und Nash. Harry und Gabriel hatten die beiden
flüchtig in der Schule kennengelernt. Kennen und hassen gelernt. Sie starrten
ihn nun an, Marcus mit einer kalten Miene, die Harry bis an sein Lebensende
verfolgen würde.
„Ich
glaube, das ist Ihr Bastard, Alverleigh“, hatte Antheas Vater gesagt.
„Wir mussten ihn in seine Schranken weisen.“
Harrys
Vater hatte einen langen Blick auf seinen verletzten, blutenden und
verzweifelten Sohn geworfen und dann die Worte ausgesprochen, die Harry niemals
vergessen und verzeihen würde. „Glover“, hatte er sich an seinen Butler
gewandt. „Da draußen auf der Treppe liegt Unrat. Lassen Sie ihn
entfernen.“ Damit war er wieder im Haus verschwunden, wortlos gefolgt von
Marcus und Nash.
Lady
Antheas Vater und ihre Brüder waren ebenfalls gegangen und hatten Harry ein
paar freundlichen Lakaien überlassen, die ihn in die Stallungen seines Vaters
getragen, gesäubert und verbunden hatten. Danach hatten sie ihn in eine
Mietdroschke gesetzt, die ihn zum Haus seiner Tante zurückbringen sollte.
Kurz danach
war Harry in den Krieg gezogen und es war ihm gleichgültig gewesen, ob er dort
überlebte oder starb. Manchmal war er dem Tod nur um Haaresbreite entronnen,
aber irgendwie hatten sein Bruder Gabriel und seine Freunde auf Harry aufgepasst,
bis er sich wieder erholt hatte.
Der Liebe
und der feinen Gesellschaft in London hatte er für immer abgeschworen.
Warum also
hatte er jetzt der Tochter eines Earls einen Heiratsantrag gemacht? Es hatte
nichts mit Lady Anthea zu tun, dessen war er sich sicher.
Er hatte
sie im vergangenen Jahr wiedergesehen. Inzwischen verheiratet mit Freddy
Soffington-Greene, war sie auf Gabriels Hochzeitsball erschienen, eingezwängt
in ein goldfarbenes Kleid, aus dem sie fast herauszuquellen schien.
Er hatte
nicht das Geringste empfunden, allenfalls eine milde Selbstverachtung, weil er
sich so leidenschaftlich in eine so durchschaubare Frau hatte verlieben
können. Als er sie nun in der Gesellschaft der Freunde und Verwandten seines
Bruders beobachtete, begriff er, wie unglaublich jung er vor all diesen Jahren
gewesen war ... und wie sehr er sich aus Liebe zum Narren gemacht hatte.
Er hatte
Lady Anthea mit der ganzen Kraft seines jugendlichen Herzens geliebt.
Nell mit
Lady Anthea zu vergleichen war, als vergliche man eine Taube mit einer
Schlange.
Was immer
er also für Nell empfinden mochte, war keine Liebe. Es war etwas ... Normaleres
und doch ... so viel Besseres.
Er trieb
Sabre wieder zum Galopp an und ritt in
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