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Anständig essen

Anständig essen

Titel: Anständig essen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Duve
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Foer, »Tiere essen«)
    »Warum ich nicht Brüder esse – einfach aus Familiensinn, das ist alles. Irgendwo muss Scham beginnen.«
    (O. W. Fischer)
    Vor einigen Jahren forderte eine Zeitung mich auf, eine Utopie nach meinen Wünschen zu entwerfen und darüber einen Artikel zu schreiben. Ich nutzte die Gelegenheit, um ein schmissiges Pamphlet gegen die industrielle Massentierhaltung abzuliefern. Der zuständige Redakteur schien auch zuerst sehr angetan. Nach Rücksprache mit dem Chefredakteur bat er mich allerdings um einige kleine Änderungen, etwa, ich möge doch bitte den Satz »Kinder essen wir am liebsten« durch »Jungtiere essen wir am liebsten« ersetzen.
    »Aber darum geht es doch gerade«, rief ich in den Telefonhörer, »Kalbsschnitzel, Spanferkel, sechs Wochen alte Hähnchen – das sind alles Kinder! Teenager im äußersten Fall! Wenn da ›Jungtiere‹ steht, zuckt dochkein Mensch mehr zusammen.« Ich erwähnte Bernhard Grzimek, der absichtlich stets den Ausdruck »essen« gebraucht hatte, wenn er von der Nahrungsaufnahme der Tiere sprach, niemals »fressen«. Aber davon wollte der eigensinnige Redakteur nie gehört haben – wir konnten uns nicht einigen und verschoben das Gespräch auf später. In der folgenden Woche entwickelte die Zeitung eine Telefonkultur, wie sie mir bislang erst zweimal untergekommen war – einmal bei dem Versuch, ein Visum von der nigerianischen Botschaft zu erhalten, und einmal bei einem Ex-Freund, der mir noch zehntausend Euro schuldete. Sprach ich mit der Sekretärin, war der Redakteur »außer Haus«, hatte er unvorsichtigerweise selbst abgehoben, rief er bloß, er müsse gerade los, eine kurzfristig angesetzte Konferenz, »… doch, jetzt sofort, … nein, leider, leider …«, und knallte den Hörer auf. Endlich beschloss ich, lieber die Verstümmelung und Verwässerung meines Artikels zu ertragen, als zu riskieren, dass er womöglich gar nicht mehr erscheinen durfte. Deswegen sagte ich beim nächsten Anruf zu der Sekretärin: »Hier ist Judith Hermann«, wurde anstandslos durchgestellt, und als der Redakteur sich meldete, sagte ich sofort, dass es mir völlig egal sei, wie eilig er es wieder habe, er müsse mir jetzt zwei Minuten zuhören. Dann versicherte ich ihm, dass ich meinen blöden Literatenstolz opfern und von nun an völlig kooperativ sein wolle, und bat ihn herzlich, den Artikel in den Druck zu geben.
    »Äh … schön«, erwiderte der Redakteur, inzwischen hätten jetzt aber noch drei andere Kollegen – völlig unabhängig voneinander – sehr heftig auf bestimmte Formulierungen reagiert, vor allem natürlich auf die Verwendung der Kinder-Metapher, und die Lösung dieser inhaltlichen Probleme – auch im Sinne meiner wirklich wichtigen und starken Aussage – würde vermutlich mehr Zeit in Anspruch nehmen, als uns bis zur nächsten Ausgabe zur Verfügung stand. Die Woche darauf wäre leider bereits ein anderer Text an dieser Stelle eingeplant und danach noch ein anderer. Aber im September könnte es gut möglich sein, dass dann meiner erschiene. Oder spätestens im Oktober.
    Muss ich noch erwähnen, dass der Artikel nie gedruckt worden ist? Ich verstand das nicht. Schließlich handelte es sich um eine liberale, respektable und überregionale Zeitung, die sich meines Wissens auch nicht durch Werbebeilagen der Fleischerinnung finanzierte. Warum war es so ungeheuer wichtig, dass ein Tierkind nicht Kind, sondern Jungtier genannt wurde? Warum wollte man durch unterschiedliche Begriffe für gleiche Sachverhalte auf einer trennscharfen Linie zwischen Mensch und Tier beharren, die zwar im Sprachgebrauch üblich, naturwissenschaftlich aber längst widerlegt war?
    Kein ernst zu nehmender Zoologe würde es nämlich heute noch wagen, dem Menschen eine absolute Sonderstellung außerhalb des Tierreichs einzuräumen. Der Mensch ist ein Tier, zweifellos ein kluges Tier, aber doch vor allem ein Tier. Und zwar ein Wirbeltier. Schauen Sie sich ruhig mal ein Röntgenbild Ihres eigenen Rückens an – alles voller Wirbel. Ein wichtiges Indiz dafür, dass wir es hier mit einem Wirbeltier zu tun haben. Genauer gesagt mit einem Säugetier. Schauen Sie ruhig mal unter Ihr T-Shirt. Noch genauer: »Im zoologischen System gehört der Mensch zu den Säugetieren in die Ordnung der Herrentiere.« So steht es im Brockhaus. Affen sind wir, und zwar Primaten, Unterordnung Trockennasenaffen. Was denn auch sonst? Gehen Sie ruhig mal wieder in den Zoo und schauen Sie bei ihren inhaftierten

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