Apartment 16 - Nevill, A: Apartment 16 - Apartment 16
als neu geformte abscheuliche Wahrheit nach oben zu steigen. Seine Wahrheit. Die Wahrheit überhaupt.
Das hier also war seine künstlerische Vision.
Aber wollte er die denn haben?
Das Gesicht in den Händen verborgen, starrte Seth zwischen den Fingern hindurch zur Zimmerdecke.
Dies hier war womöglich ein besonderes Geschenk, das er mit Füßen trat. Ein großes Geschenk, das einen nicht unerheblichen Preis forderte. Sich mit der Welt auf diesem Niveau auseinanderzusetzen – das war sehr verführerisch. Wenn er stark genug war, seiner künstlerischen Berufung zu folgen, dann sollte es ihm eigentlich egal sein, was die anderen dachten. Wenn er sich seinen Visionen hingab, dann war kein Platz mehr für Eitelkeit oder Würde. Dann durfte es keine Hemmschwellen mehr geben. Er würde sich voll und ganz seinem Unterbewusstsein ergeben, bis es ihn vernichten oder er wahre künstlerische Vollkommenheit erreichen würde. Die Frage nach Erfolg oder Versagen stellte sich nicht mehr. Es gab keine Fristen oder Termine. Nur die absolute Hingabe an das, was er sah und fühlte.
Wollte er dieses Wagnis eingehen?
Er sah zu Boden. Ließ seinen Blick über die Bilder gleiten und empfand gleichzeitig Ekel und eine ganz bestimmte Art von Erregung, die ihm unangenehm war. Diese Visionen würden ihn zerstören, das wurde ihm schlagartig klar.
Seth setzte sich auf den Bettrand, senkte den Kopf und sog so heftig an seiner Zigarette, dass sie in wenigen Augenblicken aufgeraucht war. Er dachte über seine Albträume nach und über die Erscheinung des Jungen mit der Kapuze, der zweifellos eine Halluzination war. Um Gottes willen, er hatte wirklich ernsthaft mit einer Ausgeburt seiner kranken Fantasie gesprochen. Und dann war da noch seine unkontrollierbare Wut, diese eigenartige Starre, seine Unfähigkeit richtig zu funktionieren, sich zu kontrollieren und korrekt zu handeln, sich halbwegs vernünftig zu ernähren und mit anderen Menschen zu kommunizieren.
Jetzt wäre die Gelegenheit, sich von diesem Wahn zurückzuziehen. Vielleicht übermittelten ihm ja die Überreste seines alten Ichs in diesem Moment der Ernüchterung eine letzte Warnung. Oder es handelte sich um eine ärgerliche Einmischung einer in seine Persönlichkeit eingebauten Sperre, die ihn davon abhielt, seine künstlerischen Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Er wusste nicht, wofür er sich entscheiden sollte, und es gab niemanden, mit dem er dieses Problem besprechen konnte. Er wusste nur, dass er Angst vor sich selbst hatte, sich selbst nicht mehr trauen konnte und nicht mehr in der Lage war, sein Verhalten in bestimmten Situationen vorauszusehen oder zu kontrollieren.
15
Irgendetwas machte Stephen zu schaffen. Er hatte dunkle Augenringe, sein Gesicht wirkte abgemagert und die Bewegungen seines Kopfes und seiner Hände waren ungewöhnlich langsam. Überhaupt machte er einen sehr trägen Eindruck, wie er da hinter dem Rezeptionspult stand, und er schien jeder noch so kleinen Geste ungeheuer viel Aufmerksamkeit zu widmen. Apryl hatte dies schon bei ihren letzten Begegnungen bemerkt. Und es kam ihr vor, als wäre er in ihrer Gegenwart besonders nervös. Beinahe schon ängstlich. Eine solche Reaktion hatte sie bisher noch nie bei einem anderen Menschen hervorgerufen.
Vielleicht lag es daran, dass Janet, seine Frau, krank war. Von Piotr, der immer wieder auf sie einredete, hatte Apryl gehört, das Ehepaar habe vor Jahren bei einem schrecklichen Unfall sein einziges Kind verloren. Und zu allem Überfluss musste der arme Mann auch noch jeden Tag um sechs Uhr aufstehen, um den Schichtwechsel zwischen Nacht- und Tagesportiers zu überwachen, und anschließend bis sechs Uhr abends seinen Dienst zu tun. Er hatte eine Zwölfstundenschicht, und man erwartete von ihm, gegenüber den Hausbewohnern gleichzeitig die Rolle des Diplomaten und des Dieners einzunehmen. Das hatte er ihr auf seine ruhige, unaufgeregte Art einmal erklärt. Und obwohl sie den Eindruck hatte, dass er ihr gerne half und in seinem Interesse an ihr nichts Unangebrachtes oder Zudringliches lag – er war eher väterlich zu ihr – , hatte sie inzwischen den Verdacht, ihre Anwesenheit im Barrington House bekäme ihm nicht gut. Es war nicht so, dass sie ihm Schwierigkeiten machte oder ihn vor unangenehme Aufgaben stellte. Vielleicht kam dieser zurückhaltende Engländer einfach nicht mit ihrer amerikanischen Art klar.
»Guten Morgen, Apryl. Machen Sie Fortschritte?«
»Ach, Sie wissen ja, wie das ist. Ein Schritt
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