Apartment 16 - Nevill, A: Apartment 16 - Apartment 16
sprach. Und seine Stimme. Sie hatte überhaupt kein Bedürfnis, seinen Redefluss zu stoppen. Er hätte ihr die Inhaltsstoffe eines Waschmittels vorlesen können, und sie hätte ihm gebannt zugehört. Die ganze Nacht, wenn es nach ihr gehen würde.
»Er war seiner Zeit voraus. Er hat eine neue visuelle Sprache gefunden, eine Art Anti-Ästhetik entwickelt, die mit einer bestimmten Philosophie und radikalen politischen Ideen einherging. Jenseits des Vortizismus, des Futurismus, des Kubismus und des Surrealismus arbeitete er ganz allein und folgte von Anfang an nur seinem eigenen kreativen Diskurs. Man könnte ihn einen Philosophen des Okkulten nennen. Er wurde zu Lebzeiten verkannt und seither ignoriert. Die Geißel des englischen Konservatismus und der bequemen Boheme. Ein Maler, der seine Kunst als ein Mittel zur Anbetung von etwas Übernatürlichem ansah. Und als ein Mittel den Weg dorthin zu finden. Es ist viel erstaunlicher, dass vor mir noch niemand über ihn geschrieben hat.«
Die Erwähnung des Übernatürlichen behagte ihr nicht. Es verdarb ihr beinahe die Laune. »Glauben Sie denn … «
»Was?«
»Dass er über bestimmte Kräfte oder so etwas verfügt hat?«
»Kräfte?«
»Ich weiß, dass das komisch klingt, aber meine Großtante hatte wirklich Angst vor ihm.«
»Na ja, er hat sich mit okkulten Riten beschäftigt. Wahrscheinlich ist er bei Aleister Crowley, dem Großen Tier 666, in die Lehre gegangen und hat an einigen bedeutenden Ritualen teilgenommen. Wer weiß, wie sehr er einen dafür empfänglichen Menschen beeindrucken konnte.«
»Aber was ist, wenn es nicht bloß Suggestion war?«
Miles lachte und riss ein Stück Brot in der Mitte durch. »Jetzt versuchen Sie schon wieder mich reinzulegen.«
»Wahrscheinlich.« Es war eine dumme Frage gewesen, und sie bereute sofort, sie gestellt zu haben. Überall um sie herum aßen, tranken und redeten die Leute im hellen Licht dieses modernen Restaurants. Draußen fuhren Taxis vorbei, und eine Menschenschlange hatte sich vor der Oper gebildet. Dies hier war die Welt der Handys und der Kreditkarten. Hier gab es keine Gespenster. Vielleicht drehte sie ja langsam durch, weil sie sich schon viel zu intensiv mit den verrückten Ideen von Hessen und Lillian beschäftigt hatte.
»Die Mystifizierung seiner Person ist nicht gerade zu seinem Vorteil, jedenfalls was die Kunstszene betrifft«, fuhr Miles fort. »Alle Antworten, die ich bekam, als ich während der Arbeit an meinem Buch Kunsthistoriker und Kuratoren befragte, ähnelten sich. Alle hielten ihn für abseitig und im Vergleich mit anderen zeitgenössischen Künstlern für unbedeutend.«
»Ich denke, man kann an alles glauben, was man sich in den Kopf setzt«, sagte sie leise.
Miles hörte nicht zu, sondern starrte unverwandt auf den schweren violetten Wein in seinem Glas. Apryl nahm einen Schluck. »Glauben Sie denn wirklich, dass er diese Bilder gemalt hat?«
»Ich bezweifle nicht, dass er gemalt hat. Aber ich vermute, er hat alles zerstört, als sein Antrieb ihn verließ. Das ist durchaus nachvollziehbar. Er war sehr selbstkritisch. Er hat sich praktisch vor unmögliche Aufgaben gestellt. Oder vielleicht hat ihn auch sein Gefängnisaufenthalt ruiniert.«
»Ich frage mich, ob er nicht doch einige Gemälde angefertigt hat, die er Leuten zeigte. Zum Beispiel meiner Großtante und ihrem Mann.«
»Glauben Sie, es gibt irgendwo ein eingestaubtes Lager, in dem seine Werke liegen? Es gibt ja Leute, die behaupteten, er hätte Bilder gemalt, die radikaler waren als alles, was die Moderne oder irgendein Künstler egal, welcher Epoche je hervorgebracht hat. Das wäre natürlich großartig. Aber wo sind sie?«
»Sie wollen mich wohl verscheißern.« Sie mochte diese Formulierung, die sie hier in England aufgeschnappt hatte.
»Nein. Ich habe nur meiner eigenen Enttäuschung Ausdruck verliehen, weil ich nichts gefunden habe. Und Sie können mir glauben, dass ich wirklich alle Hebel in Bewegung gesetzt habe. Ich habe mit den Nachlassverwaltern gesprochen, mit entfernten Verwandten und mit den Nachkommen von allen, die ihn jemals erwähnt haben. Von der Familie des Sammlers, der seine Zeichnungen vor der Inhaftierung angekauft hat, gar nicht zu reden. Hessen hat das alles verkauft. Es hatte seinen Zweck erfüllt. Aber ich habe keinen einzigen glaubhaften Beweis dafür gefunden, dass er wirklich ein Gemälde angefertigt hat.«
»Und was war nach dem Krieg? Haben Sie etwas über seinen Verbleib
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