Archer Jeffrey
Ungläubig starrten Heidi und Adam auf das Meisterwerk.
Die schlichte Schönheit des in Gold, Rot und Blau gehaltenen kleinen Gemäldes verschlug ihnen die Sprache. Keiner von ihnen hatte erwartet, daß die Ikone so atemberaubend sein würde: Der heilige Georg, hoch über dem Drachen stehend, ein mächtiges Schwert in der Hand, das er dem Ungetüm mitten ins Herz stieß. Das Feuer, welches aus dem Rachen des Drachen loderte, war tiefrot; es bildete einen verblüffenden Kontrast zu dem goldenen Umhang, der den Heiligen einzuhüllen schien.
»Großartig!« stammelte Heidi, die als erste die Sprache wiederfand.
Adam ließ das kleine Bild nicht aus seiner Hand.
»Sag doch etwas!« bat ihn das Mädchen.
Doch Adam schüttelte nur den Kopf.
Endlich drehte er die Ikone um und entdeckte an ihrer Rückseite eine in das Holz eingelassene, kleine silberne Krone. Er betrachtete sie eingehend und versuchte, sich zu erinnern, was Mr. Sedgwick von Sotheby’s über dieses Zeichen gesagt hatte.
»Ich wollte, mein Vater hätte den Brief geöffnet«, sagte Adam endlich und drehte die Ikone wieder um, da er den Triumph des heiligen Georg noch einmal bewundern wollte. »Von Rechts wegen gehörte sie nämlich ihm.«
Heidi überprüfte, ob sich nicht noch etwas in der Kassette befand. Dann drückte sie den Deckel zu, und Adam versperrte das Kästchen wieder. Er wickelte den Musselin um das kleine Gemälde, verschnürte das Päckchen sorgfältig und verstaute es in der Kartentasche seines Trenchcoats.
Heidi lächelte. »Ich hab’s ja geahnt! Nun ist es dir tatsächlich gelungen, zu beweisen, daß du den Mantel brauchen würdest, selbst wenn es nicht regnet …«
Adam ging zur Tür und öffnete sie. Die beiden Bankleute traten unverzüglich ein.
»Ich hoffe, daß Sie vorgefunden haben, was Ihnen versprochen wurde«, sagte Monsieur Roget.
»Ganz gewiß«, erwiderte Adam. »Aber ich werde die Kassette nun nicht mehr benötigen«, fügte er hinzu und gab den Schlüssel zurück.
»Wie Sie wünschen«, erwiderte Monsieur Roget, indem er sich leicht verbeugte. »Hier ist das restliche Geld von Ihrem Reisescheck, Mr. Scott.« Mit diesen Worten reichte er Adam einige Schweizer Banknoten.
»Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen wollen – ich möchte mich von Ihnen verabschieden. Monsieur Neffe wird Sie hinausbegleiten.«
Er reichte Adam die Hand, verneigte sich andeutungsweise vor Heidi und fügte mit einem schwachen Lächeln hinzu:
»Ich hoffe, wir waren Ihnen nicht zu mie-se-petrig!«
Alle lachten.
»Und ich hoffe noch, daß Sie einen angenehmen Aufenthalt in unserer Stadt verbringen werden«, sagte Monsieur Neffe, während der Lift gemächlich abwärts fuhr.
»Ich fürchte, er wird sehr kurz sein«, erwiderte Adam. »Um siebzehn Uhr erwartet uns bereits wieder der Flughafen!«
Der Lift blieb im Erdgeschoß stehen, und Monsieur Neffe begleitete Adam und Heidi durch die Halle. Die Eingangstür wurde für sie geöffnet, doch sie traten beide zur Seite, um einem alten Mann Platz zu machen, der langsam an ihnen vorbeischlurfte. Die meisten Leute hätten wohl nur seine Nase angestarrt, aber Adam fiel vor allem der durchdringende Blick des Mannes auf.
Nachdem der Alte schließlich bei der Dame am Empfangstisch angelangt war, erklärte er: »Ich bin gekommen, um Monsieur Roget zu sprechen.«
»Ich bedauere, Monsieur, aber Monsieur Roget hält sich zur Zeit in Chicago auf. Ich werde gerne nachfragen, ob sein Sohn verfügbar ist. Wen darf ich melden?«
»Emmanuel Rosenbaum.« Die Dame nahm den Telefonhörer ab und führte wieder ein kurzes Gespräch auf französisch. Nachdem sie aufgelegt hatte, sagte sie:
»Würden Sie bitte in den vierten Stock hinauffahren, Monsieur Rosenbaum?«
Wieder mußte der Alte einen dieser furchterregenden Fahrstühle besteigen, und auch diesmal gelang es ihm nur mit knapper Not, wieder herauszukommen, bevor die großen Türen wie Kiefer zuschnappten und ihn einzwängten. Eine weitere Dame mittleren Alters führte ihn in das Wartezimmer. Als sie ihm Kaffee anbot, lehnte er höflich ab, indem er mit der rechten Hand gegen sein Herz klopfte.
»Monsieur Roget wird gleich bei Ihnen sein«, versicherte die Dame dem alten Herrn.
Er mußte nicht lange warten; kurz darauf trat Monsieur Roget ein und lächelte seinem Besucher zu.
»Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Monsieur Rosenbaum, aber ich fürchte, Sie haben Mr. Scott soeben verpaßt.«
»Mr. Scott?« stammelte der alte Mann überrascht.
»Ja, er ist erst vor wenigen
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