Arkadien 02 - Arkadien brennt
mir?«
»Ach, komm schon. Ich kann das doch nicht einfach im Raum stehenlassen … zwischen uns.«
Er seufzte leise und blickte wieder hinaus in die Ebene. Das Land war nahezu in der Nacht versunken. Viele Kilometer entfernt glühten die Lichtpunkte einer Ortschaft. Am Sternenhimmel blinkten die Signallampen eines einsamen Flugzeugs, das lautlos nach Norden schwebte.
»Als ich gesagt habe, dass ich nichts mit den Anschlägen zu tun habe, da hast du –«
»Da hab ich Schade gesagt. Ich weiß.«
»Hast du’s auch so gemeint?«
Sie nickte, ohne zu zögern. »Glaubst du denn, ich hätte den Kerlen nie den Tod gewünscht? Ich hab oft genug gehofft, dass sie jämmerlich krepieren.«
»Mattia hat möglicherweise noch gelebt, als sie ihn angezündet haben.«
Sie nahm seine Hand und zog ihn sanft heran. »Er ist gar nicht dabei gewesen. Er war keiner von ihnen.«
»Warum bist du dir da so sicher?«
Konnte sie das denn sein? Was würde sie auf dem Video zu sehen bekommen? Wen würde sie wiedererkennen? Nur Michele und Tano? Im Augenblick war sie sich nicht mal im Klaren darüber, ob sie die Aufnahme je anschauen würde.
Alessandros Blick war ernst und düster. »Hast du Mattia gefragt? Oder hat er es von sich aus abgestritten?«
»Weder noch.«
»Dann weißt du nicht, ob er unschuldig war.«
»Er hat mir das Leben gerettet!«
»Und ich bin nicht verantwortlich für seinen Tod. Ganz egal, was Trevini behauptet.«
Hatte sie wirklich geglaubt, dass Alessandro sie belogen hatte? Sie rang die Schuldgefühle nieder. »Okay«, sagte sie nach einer Weile. »Wer war es dann?«
Seine Miene verriet, dass es ihm widerstrebte, die Wahrheit auszusprechen. Rosa sah den gequälten Ausdruck in seinen Augen. Sie streichelte über sein Haar und küsste ihn, weil ihr plötzlich danach war.
»Der Hungrige Mann«, sagte er.
»Der sitzt noch immer im Gefängnis, dachte ich.«
»Als hätte das irgendeinen capo jemals davon abgehalten, Todesurteile auszusprechen.«
»Aber warum sollte er das tun? Was hat er mit deiner amerikanischen Verwandtschaft zu tun?«
»Vor allem geht es ihm um mich.«
Sie starrte ihn an. Das Leid in seinem Blick, die Trauer, die in seiner Stimme mitschwang, berührten sie. Und allmählich begriff sie, worauf das alles hinauslief.
»Der Hungrige Mann wird das Gefängnis bald verlassen«, fuhr er fort. »Das sind keine Gerüchte mehr, es ist nur noch eine Frage der Zeit. Irgendjemand an höchster Stelle hat veranlasst, dass sein Gnadengesuch von neuem geprüft wird. Und jeder ahnt, wie das ausgehen wird.«
Der Hungrige Mann – alle nannten ihn so, niemand benutzte seinen wahren Namen – war der Vorgänger des capo dei capi Salvatore Pantaleone gewesen. Über Jahrzehnte hinweg hatte er die sizilianische Mafia mit größter Grausamkeit beherrscht, ehe man ihn vor fast dreißig Jahren verurteilt und eingesperrt hatte. Lange Zeit war es still gewesen um ihn, ehe vor einigen Jahren neue Gerüchte die Runde machten. Die Rückkehr des Hungrigen Mannes stehe kurz bevor, hieß es seither. Er habe mächtige Verbündete in den europäischen Machtzentralen, die dafür sorgten, dass nach und nach die wichtigsten Urteile gegen ihn aufgehoben und die übrigen Strafen verkürzt wurden. Pantaleone war tot, der Posten des capo dei capi vakant. Machtkämpfe tobten innerhalb der Cosa Nostra, wer der neue Boss der Bosse werden würde, aber niemand stellte sich offen zur Wahl. Alle schienen den Hungrigen Mann zu fürchten, keiner wollte das Risiko eingehen, ihm im Weg zu stehen, falls er wirklich nach Sizilien zurückkehrte und alte Herrschaftsansprüche geltend machte.
Er hatte sich selbst den Titel Hungriger Mann gegeben und sich als Wiedergeburt des Ahnherrn aller Arkadischen Dynastien proklamiert – als Reinkarnation des Königs Lykaon, jenes Tyrannen, der der Legende nach vom Göttervater Zeus in den allerersten Tiermenschen verwandelt worden war. Mit ihm waren alle Bewohner Arkadiens zum gleichen Schicksal verdammt worden. So waren die Panthera geboren worden, die Lamien, die Hundinga und all die anderen Gestaltwandler, die sich nach dem Untergang Arkadiens über die Welt verteilt hatten und das Erbe des versunkenen Reiches bis heute aufrechterhielten.
Der Hungrige Mann, so hieß es, wollte die alte Schreckensherrschaft der Arkadischen Dynastien wiederherstellen. Er versprach seinen Anhängern die Rückkehr zu den blutigen Exzessen der Antike, als die Gestaltwandler die Reiche rund um das Mittelmeer
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