Banana Pancake Trail: Unterwegs auf dem vollsten Trampelpfad der Welt (German Edition)
bringt. Anderen werden Gliedmaßen gebrochen oder man entstellt sie anderweitig. Erst, wenn diese Kinder kein Geld mehr von Touristen bekämen, würden die Bandenbosse merken, dass das absichtliche Verstümmeln von Kindern nichts bringt. So aber hält man mit jedem Cent, den man gibt, die Mitleidsmaschinerie am Laufen.
Das ist natürlich ein drastisches Beispiel. Die meisten Kinder werden nicht absichtlich entstellt, sondern von ihren Eltern zum Betteln geschickt. Was aber soll man denken, wenn man um zehn Uhr vormittags von einem Achtjährigen um einen Dollar gebeten wird? Es ist nicht so schwer, darauf zu kommen, dass dieser kleine Mensch eigentlich in der Schule sein sollte und nicht auf der Straße. Und er würde wahrscheinlich auch selbst lieber in die Schule gehen, wenn seine Eltern ihn nicht zum Betteln geschickt hätten. Erst, wenn diese Kinder kein Geld mehr nach Hause bringen, weil ihnen niemand etwas gibt, werden die Eltern vielleicht endlich einsehen, dass es sinnvoller ist, ein Kind etwas lernen zu lassen.
Was soll man von einer Mutter halten, die sich um drei Uhr morgens mit ihrer Tochter, die einen tennisballgroßen Tumor am Hinterkopf hat, vor eine Diskothek setzt und bettelt? Braucht sie wirklich das Geld für eine Operation? Und selbst wenn es so wäre – ist das Zurschaustellen von Elend tatsächlich das angemessene Mittel, an dieses Geld zu kommen?
Man muss nicht gleich in die FDP eintreten, wenn man sich die Frage stellt: Was würden all diese Bettler tun, wenn sie mit einem Schlag einfach kein Geld mehr von Touristen bekämen? Würden sie von heute auf morgen sterben? Oder würden sie sich vielleicht eine Arbeit suchen, etwas verkaufen, einen kleinen Laden eröffnen? Und würde das dem Land, das einen geradezu mit seinem Elend, Schmutz und seiner Grausamkeit erschlägt, nicht vielleicht am meisten weiterhelfen?
Hinzu kommt, dass einen viele Bettler schlicht zum Narren halten. In Indien erzählt mir ein hungriges Mädchen: «Mother dead, father dead, brother dead – I am hungry», und reibt sich dabei mit großen schwarzen Augen den kleinen Bauch. Ich gebe ihr kein Geld, sondern fünf Bananen. Zwei Minuten später sehe ich, wie sie die Bananen zum Obstverkäufer an der Ecke zurückbringt und sich das Geld dafür geben lässt.
Am sinnvollsten ist es, sein Geld den Hilfsorganisationen zu spenden. Sie haben Erfahrung und wissen, wer wo am dringendsten Geld braucht und wie man es nachhaltig verwendet, anstatt neue Abhängigkeiten zu schaffen. Unter dem Strich trägt Hilfe in Form von Mikrokrediten, Ziegen oder dem Kauf eines Stücks Regenwald wesentlich besser dazu bei, das Elend auf der Welt zu lindern, als jedem zweiten Straßenbettler eine Münze zuzuwerfen.
Trotzdem ist jede Bettelei immer eine Mensch-zu-Mensch-Begegnung. Jedes Mal sagt ein Mensch zum anderen: «Mir geht es schlecht, bitte hilf mir.» Und jeder, dessen Herz nicht aus Plastik ist, möchte sagen: «Mir geht es gut, ich kann nicht einmal etwas dafür, dass es mir gutgeht, ich will dir helfen.» Das ist die normale Reaktion unter Menschen.
Nur hält das kein Mensch im Kopf aus, wenn er Anfang 20 ist, vor allem Mädchen, Bier und einen Tauchkurs im Kopf hat und jeden Tag 38-mal von Kleinkindern, Kriegsversehrten und Alkoholikern angebettelt wird. Jeder normale Mensch dreht irgendwann durch, wenn er Tag für Tag traurige Kinderaugen, verstümmelte Arme und krumme Rücken sieht. Jedem, der kein Eisbär ist, geht das nahe, und jeder, der dem Tag für Tag ausgesetzt ist, würde gern ein Eisbär sein, um den Schmerz, den das Elend verursacht, nicht mehr zu spüren. Um durch Dritte-Welt-Länder reisen zu können, ohne ständig angesichts des Leids auf dieser Erde in Tränen auszubrechen, braucht man einen Schutzpanzer.
Der billigste Schutzpanzer, der gegen das Elend der Welt im Angebot ist, heißt «Zynismus». Mit schwarzem Humor lässt sich eigentlich fast alles ertragen. Wer zynisch ist, macht einfach einen Witz über das Elend, und schon ist das Elend nicht mehr ganz so schlimm. Das ist der theoretische Zynismus. Wenn ein indisches Kind kommt und jammert: «Mama dead, Papa dead, please give five rupees!», sagt der Zyniker: «Oh, so sorry, but my mama dead, too!», und geht weiter. Erzählt man anderen Backpackern, dass man heute von einem einarmigen Banditen angebettelt wurde, versteckt man dabei seinen eigenen Arm und äfft den Bettler nach. Manche lachen dann. Ist gemein, aber lustig.
Die höchste Stufe ist der praktische
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