Bedrohung
bedrohte, weil sie glaubten, sonst womöglich wegen Totschlags angeklagt zu werden. Außerdem gab es keine Garantie, dass er nicht trotzdem noch abdrücken konnte und sie, wenn nicht tötete, so doch zumindest verwundete.
»Drei!«
Vor Tinas Augen tauchte das Bild ihrer Kollegen auf, die tot oder verblutend auf der Straße lagen. Sie wollte nicht sterben. Sie wollte nicht wie sie enden. Sie wollte reisen. Sich verlieben. Kinder haben. Plötzlich wollte sie diese Dinge, die ihr lange wenig bedeutet hatten, mit aller Macht. Sie war umringt von Kollegen, doch völlig auf sich allein gestellt, und riskierte, alles zu verlieren. In den nächsten Sekunden.
»Zwei!«
Fox starrte sie nun direkt an, in seinen Augen funkelte eine manische Energie. Sie wusste, er würde abdrücken.
»Eins!«
Der Schuss hallte durch die kalte Nacht.
79
21:39
Ein paar Sekunden lang wagte sie nicht zu atmen. Dann, als die anderen Polizisten auf sie zugelaufen kamen, stieß sie langsam die Luft aus. Sie leistete keinen Widerstand, als einer von ihnen ihr vorsichtig die Glock aus den Fingern wand. Sie starrte nur auf den Mann hinunter, den sie soeben erschossen hatte.
Fox lag zuckend auf dem Rücken und schnappte nach Luft, die Hände dicht an den Körper gepresst, die Augen schockiert aufgerissen. Die Pistole war ihm aus der Hand gerutscht und außerhalb seiner Reichweite zu Boden gefallen – nicht dass er noch in der Lage gewesen wäre, danach zu greifen. Sie hatte ihm einmal in die Brust geschossen, doch sie konnte förmlich sehen, wie sein Herz langsam die Arbeit einstellte.
Drei Cops traten zu ihm und richteten ihre Waffen auf ihn, keiner machte Anstalten, ihm zu helfen. Erst als sich seine Augen schlossen und sein Brustkorb sich nicht mehr hob, rief jemand nach den Sanitätern. Tina entfernte sich bereits langsam und benommen vom Schauplatz und versuchte mit dem, was geschehen war, zurechtzukommen, während ihr Herz wie verrückt hämmerte.
Einer der Cops ging ihr nach und legte den Arm um ihre Schultern. Fragte, ob sie okay sei. Sie war es nicht. Sie stand unter Schock. Sie hatte heute zu viel gesehen, mehr, als ihr Verstand bereit war zu verarbeiten. Trotzdem schob sie seinen Arm weg und sagte, es gehe ihr gut. Er versuchte nicht, sie aufzuhalten, obwohl klar war, dass sie eine Aussage machen musste.
Nun strömten Polizisten in einer langen Reihe zur Hügelkuppe, dazwischen auch ein Notarztteam. Sie waren alle in Eile und warfen ihr kaum mehr als einen Blick zu, während sie an ihr vorbeieilten. Keiner sagte etwas. Egal, ob sie wussten, wer sie war oder nicht, sie schienen einen großen Bogen um sie zu machen. Die Blaulichter illuminierten die kahlen Bäume, weitere Einsatzfahrzeuge trafen ein – wie so oft zu spät, um das Blutbad zu verhindern.
Tina seufzte. Sie war benutzt worden. Sie alle hatte man benutzt. Sie war auf Fox’ Lügen hereingefallen. Sie hatte tatsächlich geglaubt, dass er mit ihnen zusammenarbeiten wollte. Das hatten auch noch einige andere geglaubt, darunter die Regierungsmitglieder, die seine Verlegung an einen sicheren Ort befürwortet hatten. Keiner von ihnen hätte gedacht, dass die Männer, mit denen sie es zu tun hatten, es wagen würden, eine solche Rettungsaktion zu unternehmen. Trotzdem hätten sie damit rechnen müssen. Gnadenlose Attacken waren das täglich Brot dieser Männer. Himmel, sie hatten sogar The Shard attackiert.
Doch am Ende waren sie gescheitert. Sie hatten es geschafft, London in seinen Grundfesten zu erschüttern, aber die Stadt stand noch, genauso wie heute Morgen, als die Angriffe begonnen hatten. Und die Terroristen hatten es nicht geschafft, ihre Anschläge islamischen Extremisten unterzuschieben. Damit hatten sie die Wirkung ihrer Bomben weiter geschmälert.
Auch Fox hatte bekommen, was er verdient hatte. Tina mochte kaum glauben, dass ausgerechnet sie ihn getötet hatte. Getötet hatte sie schon früher. Zweimal in gerechtfertigter Notwehr, dafür war sie von ihren Kollegen und der Öffentlichkeit gefeiert worden. Einmal jedoch nicht, doch davon wusste niemand. Wie sie es auch drehte und wendete, mit dem Recht würde diese Tat nie zu vereinbaren sein.
Dennoch hatte auch diesmal der Schock, ein Leben beendet zu haben, sie hart getroffen, fast wie ein körperlich spürbarer Schlag – nicht zuletzt, weil es aus allernächster Nähe geschehen war. Sie hatte keine Ausbildung zum Töten erfahren, verdammt, sie war keine Soldatin, sondern nur eine Polizistin, obwohl sie nicht
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