Bevor der Tod euch scheidet (German Edition)
spürte sie, wie der Aktenschrank wackelte.
Sie erstarrte mitten in der Bewegung, wartete ab, bis Ruhe eingekehrt war, und versuchte es wieder. Nach einer Weile hatte sie es geschafft und stand aufrecht, sodass sie sich an dem Mauervorsprung gleich unter dem Fenster festklammern konnte. Sie war jetzt auf Augenhöhe mit der Glasscheibe, die sich als stark verschmutzt entpuppte. Ihr Herz raste, aber für einen Moment erfüllte sie ein Triumphgefühl.
Bis sie nach draußen sah. Auf der anderen Seite des Fensters befand sich eine Art Hinterhof, auf dem ein paar Grasbüschel wuchsen.
Zu glauben, dass sie durch das Fenster passte, war die eine Sache – doch ihren Plan auch in die Tat umzusetzen, eine ganz andere. Nachdem sie die Scheibe eingeschlagen und alle Scherben entfernt hatte, musste sie sich vom Aktenschrank abstoßen, um sich durch den Rahmen zu ziehen. Wenn sie dann aber keinen Halt fand, würde sie von ihrer erhöhten Position rücklings auf den Boden fallen.
Behutsam griff sie nach ihrer Waffe und zog sie aus dem Rockbund, wobei sich der Schrank leicht bewegte. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass er für ihren nächsten Zug genügend Halt bot. Sie hob langsam die Waffe, hielt den Atem an und schlug sie mit aller Kraft gegen das Glas, das mit viel Lärm zersplitterte. Den anderen Arm hielt sie schützend vors Gesicht, gleichzeitig drehte sie sich zur Seite, wurde aber trotzdem von ein paar Splittern getroffen.
Der Aktenschrank geriet ins Schwanken, ihr Herz raste vor Angst, aber irgendwie schaffte sie es trotzdem, nicht den Halt zu verlieren. Sie atmete ein paar Mal tief durch, bis sie zur Ruhe gekommen war, dann brach sie mit dem Lauf der Pistole die restlichen Scherben heraus. Trotzdem blieb der Rahmen gefährlich, da sie nicht alle Glasreste herausholen konnte. Doch ein paar Kratzer und Schnitte nahm sie gern in Kauf, wenn sie dafür aus ihrem Gefängnis freikam. Immerhin wollte sie heute heiraten.
Sie ermahnte sich, nicht nach unten zu sehen, und legte die Waffe ins Gras auf der anderen Seite des Fensters. Mit beiden Händen fasste sie den Mauervorsprung, musste aber feststellen, dass der ihr keinen vernünftigen Halt bot. Sie fürchtete, nicht stark genug zu sein, um sich hochzuziehen.
Dennoch musste sie es zumindest versuchen.
Sie stieß sich vom Aktenschrank ab, um sich durch die Öffnung zu drücken, und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie schon, dass es ihr gelungen war. Mit der Brust stieß sie gegen die Betonkante unter dem Fenster und schien einen Moment lang in der Luft zu hängen. Doch dann verlor sie den Halt und stürzte mit wild rudernden Armen nach hinten.
Sie ist zur Vernunft gekommen und hat erkannt, wie dumm der Gedanke war, mich zu heiraten.
Es kam ihm vor, als würde sich der Boden wie wild unter ihm drehen. Dann legte ihm jemand eine Hand auf die Schulter. Es war Rathe, der recht überflüssig fragte: „Was soll das heißen, sie ist nicht hier? Wo ist sie denn?“
Er verkrampfte sich innerlich, als er den entsetzten Gesichtsausdruck von Francescas Mutter sah. Julia war leichenblass und stöhnte laut auf – ein Laut, der ihr zweifellos niemals zuvor in der Öffentlichkeit über die Lippen gekommen war. Grace und Connie, die hinter ihr standen, hatten ebenfalls ein kreidebleiches Gesicht. „Sie ist nicht hier“, keuchte Julia. „Sie wurde zuletzt gegen Mittag gesehen, wie sie in eine Droschke einstieg. Ich weiß nicht, wo sie ist!“
Lähmendes Entsetzen machte sich breit. Dann war Hart endlich in der Lage, einen einzelnen klaren Gedanken zu fassen. Francesca ist gegen Mittag in eine Droschke eingestiegen. Eine unheilvolle Überlegung ging ihm durch den Kopf. Ist sie etwa davongelaufen? Sein Blick wanderte von Julia zu Francescas Schwester. Lady Montrose machte einen verängstigten Eindruck. Er sah zu Rick, aber der war so verblüfft über diese Neuigkeit wie jeder andere im Raum.
Mit seinem Halbbruder war sie nicht durchgebrannt, so viel war ihm auch klar, weil Rick hier bei ihm war. Trotzdem war Francesca weggelaufen.
Er merkte, wie sich nach und nach die Blicke der Anwesenden auf ihn richteten. Er vermied es, einem von ihnen in die Augen zu sehen. Der Schock saß tief, aber zu ihm gesellte sich auch Unglauben.
Sie ist weggelaufen.
Sie hat mich am Altar stehen lassen.
Bilder von Francesca zuckten vor seinem inneren Auge vorbei: wie sie lachte, wie sie ihn voller Wärme und Zuneigung anstrahlte. Durch diese Erinnerungen hindurch starrte er seinen Halbbruder
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