Biest: Thriller (German Edition)
sein, als sie keine Minute später durch die eng gestellten Schreibtischreihen der Analysten in Richtung ihres Büros ging und sich so gerade wie möglich hielt. Sie hoffte inständig, dass niemand ihren Zustand bemerkte, aber glücklicherweise schien jeder mit sich selbst und seinem Computer oder dem Telefon beschäftigt. Die Festplatte in ihrer Tasche wie einen Schatz hütend, erreichte sie Eddys und ihr kleines Büro ohne weitere Zwischenfälle. Schnell schloss sie die Tür hinter sich, und ihr spanischer Kollege warf ihr einen skeptischen Blick über seinen Monitor zu.
»Die Festplatte«, sagte sie tonlos und ohne auf seine vielsagende Geste einzugehen, stellte die Tasche auf seinen Schreibtisch und ließ sich in ihren Drehstuhl fallen. Ihre Akkus liefen auf den letzten Reserven. Die ewige Warterei im Flieger trotz aller Prioritäten, die der ECSB eingeräumt worden waren, die rasante Fahrt durch das nächtliche Amsterdam hatten ihr zugesetzt. Sie war seit über dreißig Stunden auf den Beinen und verdammt müde. Und verdammt schwanger. Nur um irgend etwas zu tun, schaltete sie den Computer ein. Während sie nach der kurzen Fanfare wartete, dass das Betriebssystem hochfuhr, nutzte Eddy die Gelegenheit: »Komm schon, Solveigh. Was ist los?«, fragte er.
Stufe zwei auf ihrer internen Eskalationsskala. Er nannte sie Solveigh, obwohl jeder sie bei der ECSB nur bei ihrem Spitznamen »Slang« rief.
»Nichts, Eddy«, versuchte sie ihm auszuweichen, ohne sich Hoffnungen zu machen, dass sie damit durchkommen würde. Verdammt, er kannte sie einfach viel zu gut. Er sagte nichts. Die Sekunden verstrichen langsamer als jemals zuvor.
»Okay«, seufzte Solveigh. »Du hast gewonnen. Freigabe für Dr. Prins.« Er hatte den Namen mit Sicherheit bei einem ihrer Telefonate aufgeschnappt, Dr. Prins war seit Jahren ihre Frauenärztin, und sein Gedächtnis war seine zweite Festplatte.
Sofort begannen Eddys Finger über die Tastatur zu huschen. Sie waren ein Team, wahrscheinlich sogar mehr als das: Freunde. Sie hatten eine gemeinsame Vergangenheit, die lange zurückreichte. Sehr lange. Aber sie hatten auch Regeln zwischen sich aufgestellt. Eine Privatsphäre. Trotz oder vielleicht gerade wegen all dessen. »Never google the private life« (Niemals das Privatleben googlen), lautete eine dieser Regeln, die galt, seit ihnen Thater ein gemeinsames Büro zugewiesen hatte.
»Scheiße«, murmelte Eddy, der natürlich sofort begriffen hatte, was los war. Solveigh schlug die Augen nieder. Einige Sekunden vergingen, in denen sie spürte, wie Eddys Blick auf ihr ruhte. Wohlwollen. Mitgefühl. Offenbar gab es noch einige Menschen, die es gut mit ihr meinten. Major Aydin. Eddy. Will. Nur sie kriegte es einfach nicht hin mit den persönlichen Bindungen. Sie würde sich ändern müssen. Etwas in ihr hatte sich schon verändert, das spürte sie deutlich. Sie hätte ihm viel früher davon erzählen müssen. Ihr Verhältnis war seit Hamburger Zeiten ein väterliches, obwohl er keine zehn Jahre älter war als sie. An besseren Tagen zog sie ihn damit auf, dass es an seinem größer werdenden Bauch lag, oder an dem Bart, den er sich seit Neuestem stehen ließ. Er entwickelte sich stark in Richtung Steve Wozniak. Auch eine bissige Bemerkung für bessere Tage.
»Von Marcel?«, fragte Eddy schließlich. Sie nickte.
»¡Gracias a Dios! Wenigstens etwas«, sagte Eddy. Immer noch flogen seine Finger über die Tastatur, die Festplatte hatte er immer noch nicht angerührt. Niemand konnte so virtuos mit den Datenbanken der Polizeibehörden, Wolfram Alpha, Google oder sonst welchen Recherchetools umgehen wie Eddy. Plötzlich hielt er inne.
»Und, ist alles gut gegangen?« Er meinte die Strahlen. Er musste mittlerweile festgestellt haben, dass die Fehlgeburtenrate nach Tschernobyl auch in Westeuropa stark gestiegen war. Entweder weil die Frauen aus Angst vor Missbildungen abgetrieben hatten oder weil die radioaktive Strahlung eben doch die Zellteilung durcheinanderbrachte. Solveigh schluckte. »Ich weiß es nicht, Eddy. Aber ich hoffe es.« Sie fühlte, wie die Tränen in ihr hochstiegen. Dabei hatte sie sich längst damit abgefunden, keine Kinder zu bekommen. Ihr Job war viel zu anstrengend, sie reiste oft mehrmals pro Woche quer durch Europa. Aber jetzt, wo es auf einmal passiert war, konnte sie es nicht ertragen, ein Kind zu verlieren. Sie wollte es, scheiß auf den Job, das würde sich schon irgendwie finden. Waren das die Hormone? Wenn ja, hatten sie
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