Bis aufs Blut - Thriller
kennen«, sagte Bel zwischen zwei Exkursionen zum Speisewagen. Wir saßen in der so gut wie leeren ersten Klasse, aber sie ging gern den ganzen Zug ab, um mir dann anschließend berichten zu können, wie proppenvoll die zweite Klasse war.
»Deswegen sitzen wir ja auch hier«, erklärte ich. Es ist eine lange Fahrt nach Glasgow, und ich hatte jede Menge Zeit zum Lesen. Was ich las, bescherte mir jedoch keine Inspiration.
Die »Jünger der Liebe« waren von einem ehemaligen Collegedozenten namens Jeremiah Provost gegründet worden, der in den Siebzigern in Berkeley unterrichtete. Vielleicht hatte es ihn gewurmt, die Sechziger nicht mehr mitgekriegt zu haben, als man der Stadt und dem College den Spitznamen »Berserkerley« gab. Als er da ankam, war alles, trotz gelegentlicher Nackedeiparaden, schon ein ganzes Stück zahmer. Die Stadt besaß noch immer eine ganze Menge chronisch zugedröhnter Hippies und unerfahrener Kids, die versuchten, den »verlorenen Geist Kaliforniens« wiederzubeleben, aber nicht viel mehr zustande brachten, als die Haupteinkaufsstraßen zu verstopfen, während sie versuchten, ein paar Dollar zu erbetteln und Glasperlchen oder Rastahaarbänder zu verkaufen.
Das alles entnahm ich den Zeitungs- und Illustriertenausschnitten. Sie betrachteten Provost als eine halbe Witzfigur. Schon als Juniorprofessor hatte er »ausgewählte« Studentinnen und Studenten übers Wochenende zu sich nach Hause eingeladen und es geschafft, seine Klassen zu polarisieren, bis es darin nur noch solche gab, die ihn vergötterten, und solche, die sein Geschwätz über Mystik sterbenslangweilig fanden. Ein Journalist meinte, er sehe aus wie »der Beatpoet Allen Ginsberg, bevor er weiße Haare bekam«. Auf Fotos hatte Provost langes, in der Mitte gescheiteltes krauses dunkles Haar, einen ziemlich langen Bart und eine Brille mit dicken Gläsern. Es ist nicht leicht, sich aus einem College rauswerfen zu lassen, besonders, wenn man Dozent ist, aber Provost brachte das Kunststück fertig. Seine Arbeitgeber führten als Kündigungsgrund nicht sein exzentrisches Verhalten an, sondern gruben ein bisschen alten Schmutz aus und wiesen ihm nach, dass er in seinem Bewerbungsschreiben und bei einem späteren Vorstellungsgespräch gelogen hatte.
Provost blieb in der Stadt, wurde wegen Drogenhandels festgenommen, aber wie sich herausstellte, hatte er sie lediglich verschenkt, nie verkauft. Er avancierte rasch zu einem stadtbekannten Undergroundhelden. Sein Haus - eine Bruchbude in einer ruhigen Wohnstraße in Berkeley - wurde zu einer Anlaufstelle für Globetrotter, Schriftsteller, Musiker und Künstler. Das Haus schmückte ein riesiger, die Fassade emporkletternder Pappmaché-King-Kong, bis die Stadtverwaltung ihn abmontieren ließ. Das Haus selbst war so bemalt, dass es wie ein Raumschiff aussah, wenn auch ein würfelförmiges. Im Haus war Jeremiah Provost dabei, langsam, aber sicher den Planeten Erde zu verlassen.
Aus diesem Asyl für Unangepasste gingen die Disciples of Love hervor. Anfangs war es nur ein kleiner Verein, der - wie Enthüllungsjournalisten herausfanden - durch eine Erbschaft finanziert wurde, von der Provost gelebt hatte. Er stammte aus einer reichen Südstaatenfamilie, und je mehr von der älteren Generation in die ewigen Jagdgründe einging, desto mehr Geld und Immobilien gingen in Provosts Besitz über. Er verkaufte ein paar Plantagenpaläste, einen davon an ein Museum. Und auch sonst kam Bargeld rein, da Tanten und Onkel feststellten, dass er ihr einziger noch lebender Erbe war.
Eine kalifornische Illustrierte hatte mehr herausgefunden als die meisten anderen und berichtete von Provosts Kindheit in Georgia. Man hatte ihn dank einer ihn abgöttisch liebenden Mutter verhätschelt und dank eines auf eiserne Disziplin haltenden Vaters - dessen Vater wiederum den örtlichen Ku-Klux-Klan finanziert hatte - gehörig vertrimmt. Er war ein brillanter, wenn auch sprunghafter Schüler gewesen, später ein ebensolcher Student. Er hatte einen Posten in einem kleinen College in Oklahoma ergattert, bevor er nach Nebraska und dann nach Kalifornien weitergezogen war.
Seine Bestimmung fand er erst bei den Disciples of Love. Mit der Zeit wurde er das Oberhaupt einer weltumspannenden Religionsgemeinschaft, aufgebaut auf vagen Idealen, zu denen Sex, Drogen und Biogemüse zu gehören schienen. Die amerikanischen Boulevardblätter konzentrierten sich auf die ersten beiden Elemente und sprachen von »bizarren Initiationsriten« und
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