BLUTIGER FANG (German Edition)
Eltern – ein Ärzteehepaar – gehörten zur Oberschicht von Gehrsdorf und ließen es dem einzigen Kind an nichts fehlen. Wenn sie dennoch einen Nebenjob machte, dann meistens, um hier und da reinzuschnuppern und auch, um den Eltern zu zeigen, dass sie durchaus selbst Geld verdienen konnte. Einmal hatte sie einen Modeljob angenommen und es war eine Riesensensation, als sie von allen Plakatwänden in Gehrsdorf herunterlachte. Seit dieser Zeit war sie nicht nur in der Jugendszene, sondern in der ganzen Stadt bekannt, um nicht zu sagen berühmt.
Das Verhältnis zu ihren Eltern war ungetrübt, herzlich und von gegenseitiger Achtung bestimmt. Es gab nur einen Punkt, mit dem sie nicht einverstanden waren. Und das war Bronco. Sie konnten nicht wirklich nachvollziehen, was Linda an diesem jungen Mann so anziehend fand, der doch einen so dunklen Ruf hatte in der Stadt. Immer wieder hatten sie versucht, ihrer Tochter einzuschärfen, von Bronco fernzubleiben, doch waren sie damit erfolglos geblieben. So war Bronco Gegenstand häufiger Streitereien, die sich im Hause Meyer abspielten. Kaum ein Argument konnte wirklich greifen. Linda war auf diesem Ohr taub und im Herzen unzugänglich.
Mittlerweile war sie angezogen und lächelte sich im Spiegel an.
Zum Glück hatte es schon lange keine Auseinandersetzung wegen Bronco mehr gegeben. Denn sie fühlte, dass ihr außer ihm nichts wirklich wichtig war. Alles, was ihr Leben bisher ausgemacht hatte – eine wohlbehütete Kindheit mit der Erfüllung vieler Bedürfnisse, umfassende Erziehung, Ausbildung, Beschäftigung mit Kunst, Musik und Büchern, sogar ein einjähriger USA-Aufenthalt –, all dies war wie weggeblasen, als Bronco damals auf die Bühne trat. Und es blieb weggeblasen bis heute.
Kein Zweifel, Bronco war die Verkörperung dessen, was sie sich von einem Mann wünschte. Er war groß, stark und gerissen. Zudem zeigte sich ein Anflug krimineller Energie und eine urwüchsige männliche Härte, was ihn nur noch attraktiver machte. Sie empfand dieses Boshafte irgendwie als erotisch. Bronco hatte etwas von Rasputin, dieses Derb-Animalische, das sie so anziehend fand. Wenn er mit ihr schlief, kam es ihr zuweilen vor, als würde sie sich nicht von einem Menschen, sondern viel eher von irgendeinem Urviech, einem archaischen Teufel, begatten lassen, der sie mit kraftstrotzenden Stößen in ein paradiesisches Glück bumste.
Linda sah ihr Gesicht im Spiegel ernst werden. Sie würde auch ein endgültiges Zerwürfnis mit den Eltern hinnehmen, wenn es hart auf hart käme. Doch so weit würde es nicht kommen, das fühlte und das hoffte sie.
Nach dem Frühstück verließ sie das Haus und fuhr mit ihrem Fahrrad durch die Straßen von Gehrsdorf zur Arbeit.
Es war ein kleiner Sportartikelladen, den sie mittwochs und samstags betreute, wenn der Chef nicht da war, der keine anderen Angestellten hatte, weil er sonst selbst im Laden stand.
Sie schloss den Haupteingang auf und trat ein.
In dem Geschäft gab es Artikel für Angler, Skater, Skifahrer, Sportschützen, Wanderer und Bergsteiger.
Während Linda alles für die Öffnung um zehn Uhr herrichtete, schweifte ihr Blick über die Artikel. In Gedanken überschlug sie, auf wie viel Kohle es der Verkauf der einen oder anderen Artikelgruppe wohl bringen würde, wenn sie diese nicht in die Kasse tippte. Doch dann sah sie das Bild des Ladenbetreibers vor sich. Er war ein allein stehender älterer Herr, der außer einem Klumpfuß nicht viel besaß und Vertrauen zu ihr hatte. Deshalb verwarf sie den Gedanken wieder. Bronco würde schon noch auf anderem Wege geholfen werden können.
Joel wurde an diesem Samstag ungewöhnlich spät von seinen Katzen geweckt, die die Nacht wie meistens in seinem Zimmer verbracht hatten. Er schaute auf den Radiowecker und ließ sein Haupt in die Kissen zurücksinken.
Es war schon halb elf! War er früher schon wach gewesen und dann wieder eingeschlafen?
Morgens sprangen die Katzen früh auf das Bett und schlichen um ihn herum, spielten mit den Zehen oder kuschelten sich an sein Gesicht. Sowohl der Kater als auch die Katze, die er Hänsel und Gretel nannte, waren noch sehr jung und verspielt und deshalb auch recht lebhaft.
Wo war Gretel?
Ihm fiel ein, dass sie ja erkrankt war.
Joel drehte sich herum und schaute auf den Boden neben dem Bett. Dort lag die getigerte Gretel auf der Seite und schaute müde zu ihm hoch. Er langte mit der Hand hinunter und das putzige Ding schnupperte daran. Sie war immer
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