Blutnetz
die besten Freunde. »Ganz New York reißt sich darum, meine sittsame junge Braut zu sehen.«
»Das überrascht mich nicht«, sagte Bell und küsste die bildschöne Lillian herzlich auf die Wange, ehe er sich auf dem Klappsitz dem jungen Paar gegenüber niederließ. »Lillian, du siehst überwältigend aus.«
»Dank meinem Ehemann«, erwiderte sie lachend und fuhr mit den Fingern durch Archies kräftiges rotes Haar.
Als sie die aus hellem Kalkstein erbaute Hennessy-Villa auf der Park Avenue erreicht hatten, unterhielten sich Bell und Archie in der gediegenen Ungestörtheit der Bibliothek. »Sie ist eine strahlende Schönheit«, stellte Bell fest. »Aber du siehst ziemlich mitgenommen aus.«
Archie hob sein Glas mit leicht zitternder Hand. »Jeden Abend wurde gefeiert, am Tag Kirchenbesichtigungen und Partys in allen möglichen Country Clubs, und abends ging es dann wieder hoch her. In solchen Momenten sehnt man sich danach, noch mal neunzehn zu sein.«
»Was hast du auf dem Schiff erfahren?«
»Die Europäer warten geradezu auf den Krieg«, erwiderte Archie ernst. »Alle machen sich Sorgen, dass die andere Seite den ersten Schlag ausführt. Die Briten sind überzeugt, dass es mit Deutschland Krieg geben wird. Sie wissen, dass die deutsche Armee riesig ist, und das Militär hat das Ohr des Kaisers. Ach, was sage ich, Ohr! Verdammt, die Armee und die Marine haben nicht nur das Ohr des Kaisers, sondern auch sein Herz und seinen Segen.
Die Deutschen sind überzeugt, dass es zum Krieg gegen England kommen wird, weil die Briten eine Vergrößerung des Deutschen Reichs nicht tolerieren. Die Briten wissen, dass die Vernichtung der deutschen Marine keinesfalls den Sieg garantiert, wohingegen die Vernichtung der britischen Navy das Ende für Englands Überseeimperium bedeuten würde. Und als reichte das noch nicht aus, gehen die Deutschen davon aus, dass Russland ihr Land angreifen wird, um eine Revolution zu vereiteln, indem sie das Volk durch einen Krieg ablenken. Wenn das geschieht, befürchten die Deutschen, wird sich England auf die Seite Russlands schlagen, denn Russland ist mit Frankreich verbündet. Also wird Deutschland Österreich und die Türkei auf seine Seite ziehen. Aber keiner von diesen Idioten begreift, dass ihre Allianzen einen Krieg heraufbeschwören, wie er noch nie stattgefunden hat.«
»Sieht es so düster aus?«
»Zu unserem Glück wünscht sich niemand die Vereinigten Staaten als Feind.«
»Aus genau diesem Grund«, sagte Bell, »frage ich mich, ob England und Deutschland den Versuch unternehmen werden, bei den Vereinigten Staaten den Eindruck zu erwecken, dass ihnen jeweils die andere Nation feindlich gesonnen ist.«
»Das ist genau die Art von verrücktem Gerede, das ich auf dem Schiff gehört habe«, sagte Archie. »Du hast wirklich üble Gedanken.«
»Ich war in letzter Zeit zu oft in schlechter Gesellschaft.«
»Ich dachte, es läge an deiner Zeit in Yale«, sagte Archie, der ein Princeton-Absolvent war.
»In ihrem Bemühen, die Vereinigten Staaten als Verbündeten zu gewinnen, könnten England und Deutschland insgeheim versuchen, durch entsprechende Aktivitäten den Eindruck zu erwecken, ihre jeweiligen Feinde seien auch unsere Feinde.«
»Was ist mit den Japanern?«
»Captain Falconer ist der Meinung, dass alles, was die Position der Europäer im Pazifik schwächt, die Japaner ermutigt. Sie halten sich so lange sie können zurück und verbünden sich dann mit dem Sieger. Ganz offen gesagt, ist er geradezu besessen von seiner Angst vor den Japanern. Er hat sie während des Russisch-Japanischen Krieges aus nächster Nähe erlebt, daher glaubt er, dass er sie besser kennt als jeder andere. Er betont immer wieder, dass sie hervorragende Spione sind. Und um deine Frage zu beantworten, ja, wir hatten seit einer Woche einen Japaner unter Beobachtung. Unglücklicherweise ist er uns aber entwischt.«
Archie schüttelte mit einem Ausdruck übertriebener Verzweiflung den Kopf. »Ich unternehme nur eine einzige kleine Hochzeitsreise, und schon geht das gesamte Detektivgewerbe den Bach runter. Was glaubst du, wo er ist?«
»Zuletzt wurde er auf der Eisenbahnfähre unterwegs nach New York gesehen. Wir kämmen die gesamte Stadt durch. Er ist sozusagen das wichtigste Glied in diesem Fall. Ich brauche ihn dringend.«
»Ich habe jetzt den Bericht über Riker & Riker«, meldete Grady Forrer, als Bell ins Hauptbüro zurückkam. »Er liegt auf Ihrem Schreibtisch.«
Erhard Riker war der Sohn des
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