Brenda Joyce
revanchiert habe, dann ...« Er zuckte mit den Schultern und beendete den
Satz nicht.
»Sie sind
wirklich skrupellos«, erwiderte sie.
»Das sagt
man mir nach.«
»Ich dachte,
wir wären Freunde.«
»Das sind wir ja auch. Aber das
ändert doch nichts an meiner wahren Natur. Schon vergessen? Ich bin
selbstsüchtig, nicht selbstlos.«
»Ach, jetzt hören Sie schon
auf!«, antwortete Francesca verärgert. »Ich kenne Sie besser, als Sie glauben.
Sie sind nicht durch und durch selbstsüchtig, Ende der Diskussion.«
Ein
seltsamer Zug legte sich um seinen Mund, als die Kutsche vor dem imposanten
Eingang des Waldorf Astoria zum Stehen kam. »Lassen Sie uns doch ein anderes
Mal darüber debattieren.« Er wartete geduldig, bis Raoul vom Kutschbock
gestiegen war und ihm die Tür öffnete. Bevor er ausstieg, drehte er sich noch
einmal zu Francesca um. »Wo soll Raoul Sie und den kleinen Gauner absetzen?«
Joel machte ein finsteres
Gesicht, und Francesca berührte ihn beschwichtigend am Arm. »Vor dem
Polizeipräsidium«, sagte sie süßlich.
Sie hatte
gewusst, dass das eine Reaktion bei Hart provozieren würde. Seine Augen
verdunkelten sich, doch sein Gesicht blieb gelassen, als er Raoul die Adresse
nannte: »300 Mulberry Street.«
Der
dunkelhäutige Kutscher nickte.
Hart blickte Francesca mit
unbewegtem Gesicht an. »Sie befinden sich also auf dem Weg zu meinem hoch
geschätzten und ach so angesehenen Bruder. Sind Sie etwa wieder einmal einem
Verbrecher auf der Spur? Oder ist dies ein Höflichkeitsbesuch?«
Sie zog die Augenbrauen in die
Höhe. »Möglicherweise eine Mischung aus beidem.«
Harts
Lächeln war spöttisch und kühl zugleich, als er kurz den Kopf neigte und Raoul
erlaubte, die Tür zu schließen. Francesca beobachtete, wie Hart sich umdrehte
und die Straße hinaufschritt. Es gab ihr zu denken, dass sie noch immer
verärgert war.
Kapitel 4
FREITAG,
7. FEBRUAR 1902 – 16 UHR
Bragg stand mit dem Rücken zur Tür, als Francesca auf der
Schwelle zu seinem Büro verharrte. Er telefonierte, lauschte konzentriert
seinem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung und schien Francesca gar
nicht zu bemerken. Sie wollte gerade gegen den Türrahmen klopfen, als sie die
Fotografie auf Braggs Schreibtisch erblickte. Sie lag mit der Vorderseite nach
oben da, und selbst aus der Entfernung konnte Francesca erkennen, um wen es
sich handelte.
Sie zögerte
zunächst, doch ehe sie sich versah, eilte sie auch schon quer durch das kleine
Zimmer auf den Schreibtisch zu, woraufhin sich Bragg zu ihr umdrehte. Bei dem
Foto handelte es sich um die Aufnahme, die Bragg von Mary O'Shaunessy hatte
anfertigen lassen; sie lag darauf auf dem Rücken im Schnee, die Hände wie zum
Gebet auf der Brust gefaltet. Das blutige Kreuz, das in ihre Kehle hineingeschnitten
worden war, ließ sich nicht übersehen.
Francesca
musste wohl unwillkürlich einen Laut von sich gegeben haben, denn Bragg drehte
die Fotografie um und warf Francesca einen düsteren Blick zu. Doch sie hatte
bereits den furchterfüllten Ausdruck, den Mary im Angesicht des Todes auf dem
Gesicht gehabt hatte, nur allzu deutlich erkannt. Francesca schloss die Augen,
und sofort überkam sie die Erinnerung an jenen
Moment, als Mary noch am Leben gewesen war und sie mit einem ähnlich
furchterfüllten Blick angeschaut hatte. Warum hatte sie es sich damals nur
anders überlegt und war vor Francesca davongelaufen?
Francesca
seufzte und öffnete die Augen wieder, als ihr die beiden kleinen Mädchen
einfielen, die nun ihre Mutter verloren hatten, die nach allem, was Francesca
über sie gehört hatte, ein wundervoller Mensch gewesen sein musste. Nicht zum
ersten Mal stieg eine schreckliche Wut auf den unbekannten Mörder in Francesca
auf. Warum hatte er diese Tat nur begangen?
»Ich danke Ihnen«, sagte Bragg
in diesem Moment, legte den Hörer auf und wandte sich um. »Francesca?«
Sie
versuchte sich an einem Lächeln, doch es wollte ihr nicht recht gelingen.
»Hallo, Bragg.« Am liebsten wäre sie auf ihn zugetreten, hätte ihren Kopf an
seine Brust gelegt und sich in seine Arme geschmiegt, aber das war natürlich unmöglich.
»Es tut mir Leid, dass Sie das
gesehen haben.« Mit grimmigem Blick wies er auf die Fotografie. »Sie machen
sich doch nicht etwa immer noch Vorwürfe wegen ihres Todes?«
»Ich versuche, es nicht zu tun.
Mary war jung und hübsch, und sie hat zwei so süße Töchter, die nun Waisen
sind. Wir müssen unbedingt den Wahnsinnigen finden, der das getan
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